vermocht, ihre franziskanische Askese und ihre unbegrenzte ichlose Hilfsbereitschaft zu missdeuten, auch wenn sie die kühnsten Paradoxen über die gefährlichsten Dinge von sich gab. Aber was war von einer Tochter zu erwarten, die neben solchen mütterlichen Grundsätzen aufwuchs?
Eine andere junge Seele wäre vielleicht an dem steten Anprall der auf sie eindringenden Widerwärtigkeiten zerbrochen, oder sie hätte durch die ihr zugeschriebene Wichtigkeit völlig aus dem Gleichgewicht gerissen werden können. Mir kam aber zugute, dass ich meine erste Jugend in einer Art Halbtraum lebte, der ganz von glänzenden Gesichten erfüllt war und mir die lebendige Umwelt weniger fühlbar machte. In meinem Inneren befand sich ein unsichtbares Turmzimmer, wohin ich mich zurückziehen konnte. Dort warteten die Wundergestalten aus Mythe und Dichtung, mit denen ich meine Kindheit verlebt hatte und die mir immer naheblieben. An ihnen gemessen verschwanden meine Widersacher vom Erdboden. Machten sie mir’s zu schlimm, so erstieg ich meinen Turm, zog die Fallbrücke auf und weihte sie alle dem Nichtvorhandensein, dass ich sogar mit der Zeit ihre Namen vergaß. Dorthin kam auch der unsichtbare Helfer, dessen Stimme seit den Kindertagen mit mir ging und den ich zeitlebens meinen »Andern« nannte. Ihm konnte ich mein Leid klagen in der einzigen Sprache, die er zur Zeit verstand, der poetischen, denn das uferlose Wallen des Inneren war noch zu ungeformt, um sich irgend in Prosa niederzuschlagen. Wenn mir jetzt gelegentlich ein von mir geschriebener Brief aus meiner Frühzeit in die Hände fällt, so staune ich über seine vollkommene Leere. Das Kind, in dem so viel vorging, war so in sich selbst zurückgeschreckt, dass es nicht den kleinsten Teil seines Innern preisgab; ich hätte gar nicht gewusst, wie man es angreift sein Gefühl zu äußern.
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Jetzt geht ein Zwischenvorhang hoch über eine lang vergessene und nie so ganz von mir verstandene Szene, die mir selbst so recht den dunkel geführten Traumwandel meiner Jugend zeigt. Ich sehe mich an einem klaren Wintertag an dem verschneiten Grab meines Vaters ganz in Tränen zerflossen stehen. Warum weinte ich so verzweifelt? Etwas mich Erschütterndes war geschehen: ich war beim fröhlichen Eislauf an der Seite meines Begleiters von einem unbekannten jungen Studenten aufgehalten worden, der mir den Ruf meiner Mutter überbrachte, augenblicklich zu unserem Freund Oswald zu kommen, der in seiner mütterlichen Wohnung sterbend liege und mich noch zu sehen verlange, ich würde dort sie selbst zusamt meinen Brüdern treffen. Oswald war ein junger Hausfreund, Studiengenosse Edgars, der nach dem Abgang unseres Ernst Mohl als getreuer Eckart in dessen Fußstapfen getreten war und mir durch feinfühlige Aufmerksamkeiten und Rücksichten aller Art meine Stellung zwischen Mutter und Brüdern ebenso wie jener erleichterte, indem er Mütterleins Aufregungen beruhigte und Edgars Reizbarkeit ablenkte. Geistig konnte er den Entfernten nicht ersetzen, aber dieses bemerkte ich kaum, weil er als junger Arzt an Baldes Krankenbett bei der Pflege unschätzbare Dienste leistete und auch sonst wie ein Sohn die Sorgen des Hauses teilte. Bei dem jähen Tode meines Vaters, dem er sich gleichfalls durch kleine Dienste zu nähern gewusst hatte, war er es, der die vielerlei mit einem Sterbefall zusammenhängenden Besorgungen übernahm und dadurch die Hinterbliebenen entlastete. Meiner Trauer trug er auf die zarteste Weise Rechnung, und im folgenden Winter, als Edgar sich zur Fortsetzung seiner Studien nach Wien begab, rückte er ganz an dessen Stelle ein. Seine Gegenwart gab die innere Beruhigung, nach der ich am meisten bangte. Dass sein Kommen und Gehen mir vor allem galt, fühlte ich wohl dunkel, aber ich hielt mir den Gedanken fern, denn ich wusste nicht, dass er sich meiner Mutter gegenüber längst über seine Hoffnungen und Lebenspläne ausgesprochen hatte. Er war seit ein paar Tagen nicht bei uns gewesen, ich hatte aber nichts von seiner Erkrankung gewusst. Jetzt enthüllte mir die Schreckensbotschaft mit einem jähen Blitzlicht alles was ich ahnte und nicht wissen wollte. Ich ließ mir wie im Traum von den beiden Herren die Schlittschuhe ausziehen und eilte, von dem Unglücksboten begleitet, nach der mir unbekannten Wohnung. Es war eine Wunderlichkeit von mir, nicht wissen zu wollen, wo unsere jungen Freunde wohnten; ich stellte sie mir lieber aus dem Unbekannten kommend und ins Unbekannte gehend vor, wahrscheinlich weil meine Einbildungskraft vor der Enge philiströser Umgebung zurückfloh. Dort kam mir Mama mit Alfred entgegen und gab mir Aufklärung und Weisung. Ich wurde in das Krankenzimmer geführt und fuhr vor dem Anblick, der sich mir bot, innerlich zurück: da lag ein kleines, gelbes, spitziges Gesicht in den Kissen, worein die Krankheit seltsame Züge gegraben hatte, Züge, die auch sonst schon leise sichtbar gewesen, aber wieder zurückgetreten waren; eine mich tief befremdende Schrift. Sie schien jenen Stimmen recht zu geben, die mir abfällige Urteile über ihn zugetragen hatten, wonach ich nicht fragte; ich wusste ja, was die vox populi wert ist: gegen mich und die Meinigen war sein Verhalten immer tadellos gewesen. Tiefe Enttäuschung fuhr mir ins Herz statt der Trauer um den drohenden Verlust; es schien mir, als wäre alles unecht und von mir selber aufgeredet gewesen, was ich für ihn empfunden hatte, und echt nur diese weihelose Veränderung. Es fiel mir jetzt erst auf, dass wir keinerlei geistige Belange, keine Ideale gemeinsam hatten, dass wir nicht einmal ein Buch hätten zusammen lesen können, dass ihn nur Äußeres zu mir gezogen hatte und mich zu ihm die Dankbarkeit. – Er hielt meine Hand, sagte ein paar Worte, die wie Dank und Abschied klangen. Der Mahnung meiner Mutter gehorsam, beugte ich mich herab und berührte mit einem Hauch die feuchte Stirn des Kranken; mehr vermochte ich nicht und verließ eilig das Zimmer. Seine Mutter folgte mir bis zur Treppe und mischte in ihre Klage um den sterbenden Sohn die fast tragische Lächerlichkeit ihrer Hausfrauensorge, dass sie gar nicht wisse, wohin den Toten legen in der engen Wohnung. Wie von Larven gejagt eilte ich hinunter und weiter, immer weiter über die Neckarbrücke, die Wilhelmstraße entlang bis zum Friedhof. Dort weinte ich fassungslos: nicht über den sterbenden Freund – dieser war schon fern, einen langen Strom hinuntergeschwommen –, über mich selbst, mein Nichtliebenkönnen, meine vermeintliche Verstocktheit, und dass sogar mein Sinn für das Komische in der spießigen Rede der alten Frau hellwach geblieben war. Ach, ich tat mir Unrecht wie so oft: es war auch diesmal mein Warnegeist, der mich vor einem falschen Schritt bewahrte. Mein gutes, romantisches Mütterlein hatte gewiss gemeint, den Armen durch eine Verlobung am Sterbebette in seinen letzten Stunden noch glücklich zu machen. Was wäre daraus geworden ohne mein Dämonium, das sich mir nur durch die Symbolik des Äußeren verständlich machen konnte?
Der Kranke genas. Ich besuchte ihn noch einmal, als er schon im Lehnstuhl saß, und plauderte freundschaftlich mit ihm, die Schlittschuhe in der Hand, deren leises Klirren jeden Herzenston ausschloss. Er verstand