erschienen war. Dennoch – und das bewies, dass er doch einmal wirklich einen Blütentraum geträumt hatte – erwachte bei dem kurzen Wiederbegegnen mit der Erinnerung an die gemeinsamen Jugendtage die Anhänglichkeit an mich und die Meinigen aufs neue. – Warum nur dieses Dämonium, das immer so genau wusste, was mir nicht gut war, sich wie das Sokratische ganz aufs Verneinen beschränkte und mir niemals einen fördernden Rat gab? Das Leben lag vor mir ohne einen gebahnten Weg, der hindurchführte, ohne auch nur sichtbare Fußstapfen, in die man hätte treten können. Wenn eine Fata Morgana auftauchte mit berückenden Bildern von fernen Strömen und Seen und einem Leben in freier Größe, so verschwand sie schnell, wie sie gekommen war. Das häusliche Dasein ging nach des Vaters Tode unverändert weiter, bereichert durch die griechischen Studien, die ich mit Ernst Mohl bis zu seinem Wegzug nach Russland trieb. Es war das größte Geschenk, das ich je von einem Menschen empfing, der Schlüssel zu aller Größe und Schönheit, wenn auch der eigentliche Unterricht nur kurze Zeit dauerte. Von diesem Lichte angestrahlt konnte ich niemals verarmen. Die Griechen sind uns ja nicht zu Gegenständen des Wissens gegeben, sie sollen uns Lebensraum und Lebensglück sein.
Um jene Zeit ging mir auch die mich tief erfüllende englische Lyrik auf, zu der Übersetzungen meines Vaters, dessen Geist nach seinem Hingang stärker zu mir sprach, mich hinführten: Byron, Moore, Burns, Keats (mit Shelley wurde ich erst später bekannt), vor allen Byron, in dem ich nicht nur den Dichter, sondern fast mehr noch eine der strahlendsten Dichtungen des großen Schöpfergeistes liebte. Meine Mutter hatte mir nach und nach ihre Bücher geschenkt, zwar in Perldruck, aber das konnte die jungen Augen nicht stören. In ihnen allen fühlte ich einen gemeinsamen Grundzug, der sie trotz der Blutsverwandtschaft von unseren deutschen Dichtern unterschied. Ich hätte es damals nicht benennen können, was mich so eigen berührte. Heute weiß ich: es war der Stolz der selbstverständlichen bürgerlichen Freiheit, den ich unbewusst durchfühlte, die Unverletzlichkeit der Person, die im eigenen Haus wie in einer Burg wohnte, ohne nach der Polizei zu schauen. Es war die Freizügigkeit und Weiträumigkeit dieser Briten, die ihnen gestattete, alles Gedichtete ebenso gut zu erleben wie zu schreiben, ihren Fuß auf ferne Kontinente zu setzen und dort gleichfalls auf eigenem Boden zu stehen. Diese Freiheit gab auch ihrem Dichterschritt die adelige Männlichkeit und Sicherheit, für deren Erkenntnis ein junges noch halb kindliches Mädchen keinen anderen Maßstab hatte, als dass sie in einen so getanen Dichter sich auch als Mann hätte verlieben können. Wogegen unsere deutschen Dichter, die das Hochgefühl der Freiheit nur im Reich des Gedankens kannten, mir nicht eigentlich als Männer, sondern als Wesen einer übersinnlichen Ordnung erschienen, zu denen ich nur kein persönliches Verhältnis erträumte.
Während dieser Flüge unter den Gestirnen war der andere, mindere Teil meines Ichs mit der Brotarbeit der Übersetzungen beschäftigt. Von maßgeblicher Seite, meinem verehrten Landsmann Hans Vaihinger, dem Philosophen des »Als ob«, wurde es als bibliografische Ungenauigkeit gerügt, dass ich in deinem »Jugendland« die Titel der von mir übersetzten Werke nicht genannt habe, und ich versprach mich künftig zu bessern. Ich hatte sie wohl zum Teil schon damals vergessen, doch kann ich die Angabe nachholen, dass mir in meinen letzten Tübinger Jahren von seiten eines Stuttgarter Verlags der Auftrag zufiel, ein Werk von Emerson zu übersetzen – der Titel ist mir leider entfallen –, durch das ich zu einem Prozess mit dem Verleger kam. Ich hatte den gepflegten Emersonschen Stil in ein ebenso gepflegtes Deutsch übertragen, wobei sich’s von selbst verstand, dass kein Wort mit unterlief, dessen Rangwert nicht der Würde des Buchs entsprochen hätte. Der Verleger meinte jedoch, ein junges Mädchen könne unmöglich mit Emerson allein zurechtkommen und gab meinen fehlerfreien, durchgefeilten Text einem geistfremden Quidam zu überarbeiten, der ihn ohne alle Not mit Flicken vom übelsten Kaufmannsdeutsch und anderen Schnoddrigkeiten überkleisterte. Da ich durch diese Textschändung meinen Ruf als Übersetzerin gefährdet sah, setzte ich vor Gericht die Ausmerzung der schlimmsten Stellen und die Entfernung meines Namens vom Titelblatt, als das Buch schon fertiggedruckt war, durch und bekam dabei einen Vorgeschmack von den Widerwärtigkeiten der literarischen Laufbahn. Lebhafter als die Emersonschen Betrachtungen sprach das Buch eines russischen Offiziers mit Namen Karazin: »Streifereien in Russisch-Turkestan« mich an, das Freund Mohl mir zum Übersetzen aus dem Russischen geschickt hatte. Darin funkelte als ein Juwel die Geschichte von der turkmenischen Prinzessin Ak-Tomak, die von einem Liebhaber aus dem Harem entführt wird und dafür auf dem rasenden Ritt durch die Steppe dem Retter ihren Dolch in den Rücken stößt, um durch die grausame Tat ihre Freiheit zu retten, weil sie weiß, dass er sie nur nach der Ankunft in sein eigenes Frauengemach sperren würde. Danach lebt sie allbegehrt und gefährlich schön als hetärische Amazone, vor deren Tür die Männer, statt sie unterjochen zu können, sich die Hälse brechen. Um ihrer Seltsamkeit willen hatte diese Geschichte die Ehre, in der ersten deutschen Monatsschrift, der Rodenbergschen »Deutschen Rundschau«, gedruckt zu werden.
Endlich war ich der ewigen Verketzerung müde, die sich in der Kleinstadt an alle meine Schritte heftete, und ich entschloss mich, auch ohne Rückensicherung den Sprung ins Leben hinaus zu wagen. Im dritten Jahr nach meines Vaters Tod befand ich mich in München, um mir ein neues, sinnvolleres Dasein zu gründen. Der unvergesslich lächerliche Anstoß zu diesem Schritt – meine Eingabe an den Senat um Zulassung der Damen, wenn auch nur für eine Stunde wöchentlich, zu der akademischen Schwimmschule, die nicht nur von der hohen Stelle nachdrücklichst abgelehnt wurde, sondern auch in der Frauenwelt selber eine heftige Entrüstung gegen die Anstifterin des unsittlichen Vorschlags entfesselte – steht in meinem »Jugendland« des näheren zu lesen und ist auch in Tübingen selbst unsterblich geblieben. Bezeichnend war es, dass eine Jugendfreundin meiner Mutter aus ihren Mädchentagen den Erinnyenchor gegen mich führte. Bei meinem Wegzug wollte ich aber noch ein sichtbares Siegel unter meine dort verlebten Jahre setzen, und ich errichtete auf dem Tübinger Friedhof meinem Vater das hochragende Denkmal, das noch heute seinen schönsten, weihevollsten Schmuck bildet. Ich hatte in mehrjähriger, weil oft unterbrochener Arbeit den schönen zweibändigen Roman von Ippolito Nievo »Le confessioni di un ottuagenuario« übersetzt und dafür von der »Wiener Neuen Freien Presse« ein für meine damaligen Verhältnisse schwindelnd hohes Honorar, tausend österreichische Gulden, eingeheimst. Die Summe hätte als Sprungbrett in das neue Leben dienen sollen. Aber ich konnte ja nicht einen nackten Erdhügel, worauf nur im Sommer ein Lorbeerbäumchen kümmerte,