zwang, von Zeit zu Zeit für ein paar Tage wie ein Handwerksbursch auf die Wanderung zu gehen und sich unter dem Volke umherzutreiben. Solche Nahrhaftigkeit und Freude an allem Ursprünglichen bei altadligem Geblüt und großer seelischer Verfeinerung heimelte mich von meiner Mutter her an, und ich schloss mit ihm noch eine Sonderfreundschaft, wie in der Folge mit allen Gliedern seiner Familie.
Noch eine andere der gefeierten Münchner Frauen nahm sich des jungen, alleinstehenden Mädchens mit Wärme an, die durch selbstständiges Denken und männliche Charaktereigenschaften sowie durch ihre strenge Schönheit ausgezeichnete Rosalie Braun-Artaria, die mir auch einen ernsteren geistigen Austausch bot und deren Freundschaft mich gleichfalls durchs Leben begleiten sollte. Damit war der Eingang in die sonst so abgeschlossene Münchner Gesellschaft gefunden, und manches glänzende Haus öffnete mir seine gastlichen Pforten. Aber auch wenn es anders gewesen wäre, der bloße Umstand, dass ich keinen kleinstädtischen Missverständnissen mehr ausgesetzt und nur noch für mein eigenes Tun und Lassen verantwortlich war, ließ mich aufatmen. Nur was ich mir von Kindheit an so innig ersehnt hatte, das volle »Dazugehören«, fand ich auch in München nicht. War’s die Folge der langen Verkennung und Anfeindung, war’s, dass ich mich jetzt als einzige Werdende unter lauter Gereiften, Fertigen befand, oder war’s mir angeboren? Ich konnte mich nur als liebevoll empfangenen Gast, nicht als Mitglied des erlesenen Kreises empfinden, und das Gefühl des Fremdseins, das immer und überall mit mir ging, verließ mich auch in München nicht. Was der empfindsamen Kindesseele Leides zugefügt worden ist, das hinterlässt eine Narbenschrift, die schwer verlöscht. Und ich brauchte auch noch größeren Raum, um zu wachsen.
Dass Paul Heyses von edelstem künstlerischem Geschmack regiertes Haus, wo die junge, sehr schöne, von ihm angebetete Frau anmutig thronte, mir gleichfalls gastlich offen stand, ergab sich aus seiner engen Freundschaft mit meinem verstorbenen Vater von selbst. Heyse, in seiner lange bewahrten Jugendlichkeit selber noch ein schöner und gewinnend liebenswürdiger Mann, herrschte widerspruchslos in der Gesellschaft wie in der Literatur, wo sich ja sein Einfluss bis in die Schreibart herunter bemerkbar machte. Als ein Meister der Rede hatte er mit seiner hohen Kultur und seinem ganz norddeutsch gerichteten Witz, der in hundert Fassetten funkelte und auch das Wortspiel bis herab zum Kalauer nicht verschmähte, in jedem Gespräch die Oberhand, wobei er doch nie die vornehme Verbindlichkeit außer acht ließ, die ihn zu einer wahrhaft fürstlichen Erscheinung machte. Dieser spielerischen Grazie, die das Wort als Selbstzweck behandelte, waren die süddeutschen Zungen nicht gewachsen. Zwar im schlagenden Einfall war ihm Franz Lenbach, im leichten gesellschaftlichen Geplänkel die Baronin Hornstein ebenbürtig. Aber bei schärferen Redekämpfen fand sich niemand, der ihm die Stange hielt, und es war ein Schauspiel, Heyse in solchen Augenblicken zu sehen. Einer so bestechenden Dichterpersönlichkeit konnte eine begeisterte weibliche Gemeinde nicht fehlen, die ihm stets unbedingt beipflichtete und sich geistig ganz nach ihm gemodelt hatte. An der Tochter seines Freundes, der er bisher aus der Ferne eine Art literarischer Vormund gewesen war. fand er aber im persönlichen Verkehr ein unlenksames Mündel. Zwar seinen Rat, keine Gedichte drucken zu lassen, ehe ein ausgereifter Band beisammen wäre, habe ich weislich befolgt und ihm zeitlebens gedankt. Im übrigen aber wehrte ich mich gewaltig gegen sein Übergewicht. Was er meinem Vater gewesen, in dessen verdüstertes Leben er den letzten tröstlichen Abendschimmer goss, konnte mich nur mit tiefer Dankbarkeit erfüllen, und ich war ja zur Verehrung für ihn geradezu erzogen worden. Auf beide Eltern hatte er einen unerhörten, bestrickenden und sie selbst beglückenden Zauber geübt: andere Freunde, die meine Mutter mit ihrem Überschwang necken wollten, sprachen von ihm nur als von »Ihme«. Allein wenn er mit meinem Vater zu Fuß durch die alten Städtlein und Dörflein Württembergs wanderte, voll feurigen Eingehens auf den älteren Freund und voll Freude an jeder Äußerung des Volkstums, so war er ein anderer als in seiner eigenen Umwelt, die fast einem Hofe glich, wo der Ton ein gedämpfterer war, wo alle Natur wie stilisiert erschien und das Leben sich nur in einwandfreierer Gestalt zu zeigen wagte. Heyse war ja zeitlebens auf den Höhen der Menschheit gewandelt, und sein tiefes Ordnungs- und Schönheitsbedürfnis zwang ihn, von dem dämonischen Untergrund alles Daseins, der Elend und Schuld gebiert, die Augen abzuwenden, dem Vernunftwidrigen aus dem Wege zu gehen. Er stand sogar solchen Verwicklungen, wie er sie in seinen Werken darzustellen liebte, im bürgerlichen Leben schroff gegenüber, wie mir übrigens ähnliches auch von Ibsen erzählt worden ist. Ging doch sein Sinn für das Herkommen so weit, dass er es richtig fand, seine eigenen Romane, die damals für sehr frei und den ganz Zurückgebliebenen sogar für unmoralisch galten, jungen Mädchen lieber nicht in die Hand zu geben. Von dem allem war der Geist, in dem ich aufgezogen worden, fast das gerade Gegenteil, und unsere Gespräche endeten daher meistens in ein kleines Scharmützel. So war ihm auch mein romantischer Napoleonkultus höchlich zuwider, und er konnte sich bis zum Zorn, ja bis zur Ableugnung der titanischen Größe dagegen ereifern. Zwischen Gleichaltrigen hätten die Gegensätze zu einem fruchtbaren Austausch geführt, allein meiner Jugend stand ein Fertiger gegenüber, der sich die Welt auf seine Art ausgelegt und sein Weltbild der näheren und ferneren Umgebung, ja, man kann wohl sagen, einer ganzen literarischen Epoche seines Vaterlandes aufgezwungen hatte. Ich fühlte es auch bald selber, dass mein anfänglich ganz unbefangener Widerspruch wie Undankbarkeit erscheinen konnte – und beginnt nicht jede Entwicklung mit einer Auflehnung und einem Undank? – Darum hielt ich es nun, wo ich nicht mitgehen konnte, für passender, zu schweigen, aber das verletzliche Gewissen ließ mich dieses Verstummen als Unaufrichtigkeit empfinden und machte mich alsdann beklommen. So hatte ich von seiner Gegenwart häufig nicht den Vollgenuss, den mir sonst der Anblick einer so sieghaften Persönlichkeit bereitet hätte. Ganz wundervoll war Heyses Auftreten bei gesellschaftlichen Empfängen; ich dachte oft, dass hinter dem Dichter eigentlich ein hoher Diplomat stecke, und wahrlich, wenn solche nicht angelernte, sondern aus dem Innersten fließende Würde und Höflichkeit in Deutschland eine verbreitetere wäre, so stände es besser um das Ansehen der Deutschen in der Welt.
Grundverschieden von Heyse und doch ihm aufs innigste befreundet war mein engerer Landsmann, der von allen geliebte Dichter Wilhelm Hertz. Ein Stück edelsten Schwabentums, wurzelecht wie ein Erzschwabe, aber ins Weltschwabentum erweitert und erhöht. Die Uhlandsche Geisteswelt war in ihm wiedergeboren, nur ohne den Zug ins Altbürgerliche und ohne politische