der die Malklasse besuchte, war mir ein guter Kamerad. Zwar kam er gern des Abends etwas spät nach Hause, wobei ich ihn zu erwarten pflegte, aber ich gönnte ihm die Freiheit und wusste ja auch hinlänglich, dass Ermahnungen in solchen Fällen nichts fruchteten. Dafür kam er auch einmal in die Lage, mich erwarten zu müssen, als ich ohne Hausschlüssel ausblieb, was ihm ein großer Triumph war. Ich hatte mich von Hornsteins überreden lassen, den Abend mit ihnen auf einem weitentlegenen Keller zu verbringen, weil ich das Münchner Kellerleben noch nicht kannte. Es wurde spät und später, ich konnte nicht mehr allein nach Hause und musste ausharren bis zum Schluss. Zwei Herren, darunter Wilhelm Hertz, hatten denselben Heimweg, sie brachten mich vor meine Tür, aber jetzt war guter Rat teuer; wie hineingelangen? Hertz schlug mir einen Einbruch durch mein eigenes Fenster vor, wofür er seinen Rücken als Aufsteigschemel anbot; er meinte, einer geübten Reiterin müsse das Auskunftsmittel passen. Aber meine schönen Milchtöpfe, die auf dem inneren Fensterbrett standen, schon halb gestockt, die Hoffnung des morgigen Abends? Während ich noch zauderte, wurden sie plötzlich von innen leise weggestellt, und Erwins Kopf erschien, von allen mit Zuruf begrüßt. Es war der ganz unverhoffte Fall eingetreten, dass der Bruder früher als die Schwester aus dem Wirtshause gekommen war und einmal seinerseits auf die Heimkehr der Nachtschwärmerin warten musste.
Aber schöner als die schönste Geselligkeit war es doch, des Abends ganz allein im stillen Zimmer zu sitzen. Da kam ein Besuch, der von allen der willkommenste war, der unsichtbare »Andere«. Seit meinem Märchen für den kranken Bruder traute ich mir nun wirklich etwas zu, ich nahm also einen stärkeren Anlauf und versuchte es mit einer Novelle. Eine romantische Liebesgeschichte mit Treue in der Untreue nebst einer Anzahl nach der lebendigen Mustersammlung gemalter Nebenfiguren war leicht erfunden, Zeit und Gegend, in die ich sie verlegte, gaben Gelegenheit zu abenteuerlichen Begebnissen und zu weiten Landschaftsbildern nach meinem Herzen. Im Feuer des Gestaltens gönnte ich mir nicht einmal mehr die nötige Zeit zum Essen und Schlafen, aus Furcht, ich könnte etwa über Nacht wegsterben und mein Werk unvollendet hinterlassen. Jeden Morgen fühlte ich eine ganz besondere Genugtuung, noch am Leben zu sein und mich sogleich wieder an den Schreibtisch setzen zu können, um zu erfahren, wie die Geschichte weiterging. Denn dies wusste ich selber nicht, ließ es mir vielmehr von jenem Unsichtbaren gewissermaßen in die Feder diktieren. Es ging mit Windeseile, ganze Stöße beschriebenes Papier türmten sich auf, und wenn auf dem kleinen Tisch der Raum zu eng wurde, so schob ich, ohne aufzusehen, die Blätter über den Rand hinunter auf den Boden, um ja keine der kostbaren Minuten, wo die Esse glühte, zu verlieren. Im Schreiben verliebte ich mich selber in meinen Helden, in dem ich ein Stück dämonisches Übermenschentum hatte schildern wollen, und als er tot und die Geschichte zu Ende war, legte ich den Kopf auf den Tisch und weinte selige, befreite Tränen. Es war drei Uhr nachts am dritten Tag, nachdem ich zu schreiben begonnen hatte. Nun konnte ich endlich beruhigt zu Bette gehen.
Es ist schön, ein Geisteskind in die Welt zu setzen, aber wenn es hernach da ist und seine Geschicke auf die unsern einzuwirken beginnen, bekommt die Sache ein anderes Gesicht. Durch gewogene Freundesherzen, denen ich mich anvertraut hatte und die an der hervorgesprudelten Erzählung ein Wohlgefallen fanden, erfuhr Paul Heyse davon. Zu meinem größten Schrecken erschien er gleich in meiner Wohnung und begehrte als väterlicher Freund und Zensor, der über mein literarisches Heil zu wachen habe, die Novelle zu lesen. Ich verweigerte sie, denn ich wusste, dass ich von andern nichts lernen konnte, sondern abwarten musste, was mir das Leben selber zu sagen hatte. Aber schon war er auf dem Schreibtisch der aufgestapelten Blätter ansichtig geworden, hatte sie blitzschnell, bevor ich es hindern konnte, in die Tasche gesteckt und suchte trotz meinem Widerspruch mit seinem Raub lachend das Weite. Mir schwante Böses, als ich des andern Tags durch einen Zettel zu ihm gerufen wurde, aber auf eine Strafpredigt wie die, womit ich empfangen wurde, war ich nicht gefasst. Hätte er mir doch lieber den Rat gegeben, das Erzeugnis einzusiegeln und erst nach Jahresfrist wieder zu eröffnen, gewiss wäre mir hernach seine Unreife von selber aufgegangen, und die Handschrift wäre vermutlich ins Feuer gewandert. Allein er griff mich von der moralischen Seite statt von der künstlerischen an, indem er sich über die sittliche Anbrüchigkeit meines Helden wie über eine wirkliche Person entrüstete und die Behauptung vertrat, ein so gewissenloser Mann könne einer reinen Frauenseele keine Leidenschaft einflößen, wovon sich leicht aus Geschichte und Leben das Gegenteil erhärten ließ. Hier war gewiss der Brennpunkt all unserer Meinungsverschiedenheiten: er sah das Leben vernunftgemäß an und verlangte auch von der Dichtung widerspruchslose, gesetzmäßig aufzulösende Charaktere, während für mich zur inneren Wahrheit die Widersprüche mit gehörten. Niemand verstand es, wärmer und herzlicher zu loben als Heyse, wo er innerlich einstimmte; umgekehrtenfalls konnte er aber unverhältnismäßig schroff werden, wie ich ihn diesmal sah. Wir stritten heftiger als je, und das kalte Sturzbad mitten in die ersten Schöpferfreuden hinein griff mich mehr an, als ich zeigen mochte. Aber heimlich dachte ich doch, erfundene Gestalten, die solchen Sturm entfesselten, könnten nicht ganz talentlos gemacht sein. Und nun geschah es in der Folge, dass die Novelle gedruckt wurde zu einer Zeit, wo ich schon darüber hinausgewachsen war und ihre Schwächen einsah, dass sie bei den Lesern mehr Anklang fand, als mir lieb war, und zu meinem größten Verdruss während einiger Jahre bald da, bald dort nachgedruckt wurde, ohne dass ich es zu hindern vermochte. Da ich vor lauter Ernüchterung nicht einmal mehr die Korrekturbogen gelesen, sondern sie schleunigst verkrümelt hatte, ging das Ding nun auch noch mit den irrsinnigsten Fehlern behaftet durch den Blätterwald. Nur der Umstand, dass ich damals schon in Italien lebte und dass von all den Menschen, die mir in den Straßen von Florenz begegneten, wohl niemand die Missgeburt gelesen hatte, tröstete mich über den unerwünschten Erfolg.
Sobald die Münchner Sonne wärmer schien, war es mein erstes, mir zur Lust und den Tübinger Moralbegriffen zum Trotz Schwimmunterricht zu nehmen in der Würm. München besaß natürlich in dem durch einen Stellwagen mit der Stadt verbundenen Ungererbad schon seine Damenschwimmschule. Nach dreien Malen war es geschehen: ich konnte meine Schwimmblasen wegwerfen und mich vom Wasser tragen lassen; welch ein Hochgefühl! Aber noch ahnte ich nicht, wozu das binnen kurzem gut sein sollte.
Eines Tages stand Edgar wie aus der Pistole geschossen vor mir: er kam, von meinen Briefen angezogen, sich nach einem Wirkungskreis in München umzusehen. Die leidigen Verhältnisse wiesen ihn, der durchaus für eine glänzende wissenschaftliche Laufbahn