Jugend. Die auch in ihren Beschädigungen noch köstliche Empirestanduhr mit dem schwarzen Adler, der einen mit Goldbienen besäten blauen Mantel über dem goldenen Zifferblatt mit dem Schnabel zusammenhielt, konnte ich nie ganz verschmerzen. Wer kann wissen, wohin sie geraten ist? Alles ging zu Schleuderpreisen weg, weil damals der Wert solcher Altertümer noch gar nicht verstanden wurde. Dagegen erzielte ein weggeworfener Hut meiner Mutter (wenn sie einen wegwarf, war wirklich nichts daran zu halten) einen Liebhaberpreis: er wurde von einem »Parteigenossen« erworben und als Andenken im Triumph davongetragen, wie die Brüder später launig nach Florenz berichteten.
Edgar war unterdessen erschienen, uns zu holen und von der Heimat Abschied zu nehmen. In diese letzten Wochen fällt, wenn ich mich recht erinnere, unser tolles Haschischabenteuer, an dem auch Berta Wilhelmi teilnahm. Sie war noch einmal zu Besuch nach Tübingen gekommen, jetzt ganz erwachsen und so bildschön, wie ihre Kindheit versprochen hatte. Sämtliche Brüder verliebten sich bis auf den kranken Jüngsten herunter, der sie in naivem Versgestammel feierte. Aber sie hielten durch Eifersucht einer den andern in Schach, so blieb es bei allseitiger guter Kameradschaft. Edgar war seit lange neugierig, die oft geschilderten Wirkungen des indischen Hanfs kennen zu lernen, und konnte sich als Arzt leicht eine Gabe Canabis indica verschreiben. Aber es war ein Missstand dabei: man wusste nicht, wie gut oder schlecht das Präparat sich auf der langen Reise gehalten hatte, und davon hing doch die Wirksamkeit ab. Nach ein paar Fehlversuchen bezog er nun eine gewaltige Dosis frisch angekommenes Haschisch aus der Apotheke, und wir bestimmten die folgende Nacht zu unsrem Unternehmen. Edgar hatte ein Zimmer in dem gerade leerstehenden unteren Stockwerk inne. Berta und ich legten uns nur zum Schein schlafen; sobald alles stille war, schlichen wir zu Edgar hinunter. Ich bekam zwei Pillen, Berta eine, Alfred sollte nüchtern bleiben und die andern ärztlich überwachen; da er aber nicht ganz leer ausgehen wollte, schluckte er, was nur einem so jungen Menschen einfallen konnte, dafür eine Opiumpille, die zum Glück gar nicht wirkte. Edgar aber nahm, überkühn, wie er in allem war, die doppelte Höchstgabe Haschisch, um diesmal sicher zu gehen. Ich erwartete, auf dem Teppich hockend, in die Wunder von Tausendundeiner Nacht zu versinken, merkte aber nur, dass mein Denken sich sehr verlangsamte, und dann stiegen mir ganz abstrakte jenseitige Vorstellungen auf, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. Plötzlich rüttelte mich Berta und flüsterte mir zu, dass sich Edgar in einem unheimlichen Zustand befinde. Ich erhob mich völlig gelassen, als ginge mich die Sache gar nichts an, und wunderte mich doch selber über diesen Gleichmut. Edgar blickte seltsam verändert, und auf meine Frage, wie er sich fühle, antwortete er: Ich bin transferiert. Dann ging er an den Tisch und machte auf dem großen Papierbogen, auf dem er seine Symptome verzeichnete, die Eintragung: Transferiert.
Jetzt kommt das Tragische, sagte er nach einer Weile mit hohler Stimme und ganz entgeisterter Miene. Keine persönliche Tragik, erklärte er, es ist das Tragische an sich, das Tragische im Abstrakten. – Sein Gesicht hatte einen bläulichen Schein, und seine braunen Haare bäumten sich über der Stirn, dass es ganz schauerlich anzusehen war. Er aber schrieb eifrig das neue Symptom nieder. Jählings wandelte sich sein Zustand aufs neue, und er rief triumphierend: Die Schwerkraft ist aufgehoben, ich kann mich ebenso leicht durch die Luft aufwärts wie abwärts bewegen. – Zur Bekräftigung sprang er auf einen Stuhl und machte seltsame Arm- und Schulterbewegungen, wie um sich durch Flügelkraft zu erheben. Als es aufwärts doch nicht ging, war er im nächsten Augenblick am offenen Fenster, das hoch auf den Marktplatz heruntersah, um es abwärts zu versuchen. Wir zwei Mädchen hingen uns an seinen einen Rockflügel, der kräftige Alfred an den andern, und als er Miene machte, sich des Rocks samt der Belastung zu entledigen, bemächtigten wir uns seiner Arme. Allmählich beruhigte er sich und bat, ihn freizulassen, da er auf der Straße Erfrischung zu finden hoffe. Alfred wurde ihm zur Begleitung aufgezwungen, der ihn nach einer peinlichen Stunde zurückbrachte; sie waren bis nach Lustnau gerannt. Ich machte inzwischen im oberen Stockwerk Mengen von Kaffee, indem ich die Kaffeemühle unter dicken Bettdecken drehte, um Mama und Balde nicht zu wecken. Haltet mich wach, lasst mich ja nicht einschlafen, war des Patienten wiederholte Mahnung; Schlaf könnte dem Hirn gefährlich werden. – Der Gang durch die Nachtluft hatte jetzt gut getan, ein Kaffee war fertig, der einen Toten erwecken konnte, wir hielten uns alle vier vollständig wach bis zum Morgen. Aber siehe da, nach einer kalten Waschung nahm Edgar seinen Hut und begab sich ohne weiteres ins Klinikum, wo ein merkwürdiger Fall zu beobachten war, während Alfred sich todmüde zum Schlafen niederwarf und auch wir beiden Mädchen uns zur Ruhe legten.
Bei diesem letzten Tübinger Abenteuer ging auch Berta zum letztenmal durch unser Leben. Unter den aufständischen Zuckungen, die damals durch Spanien liefen, geschah es bald danach, dass in Granada an Stelle des abgesetzten Gouverneurs das schönste Mädchen der Stadt bei einem großen Stiergefechte den Vorsitz führen sollte. Die Wahl fiel auf Berta. An diesem weithin sichtbaren Platze sah sie ein Angehöriger des ältesten andalusischen Adels und verliebte sich so, dass er augenblicklich um die junge Schönheit warb, die ihm denn auch die Hand zu einem freilich nicht sehr beglückenden Ehebund reichte. Ich besitze noch ihr Bild mit spanischem Schleier und Fächer, wie sie jenes Tages das Los ihres Lebens zog, das sie für immer an Spanien fesselte.
Die letzten Tage in Tübingen rannen mir unaufhaltsam durch die Finger. Die Stadt meiner Jugend war doch tiefer mit mir verwachsen, als ich selber wusste. Sie hatte auch für alle Zeit richtunggebend auf mein Stilgefühl eingewirkt. Noch heute, wenn ich mir eine ideale Stadt in Gedanken baue, mit solchen kühnen Terrassen, solchen überschneidenden Dächern, steinernen Treppen, Durchgängen, hängenden Gärten, steigt sie nach einem stillen Fluss hinunter. Einen schwingenderen Rhythmus als die Straßenzüge Tübingens habe ich nirgends gefunden. Dieses Anschwellen und Absinken der gepflasterten Straßen, für mich sind es die Hebungen und Senkungen und wunderbar gefühlte Zäsuren eines Gedichts. Wie in der Neckarstraße hoch über unseren Häuptern sich der Umgang der Stiftskirche, wo ihm der Raum zu eng wird, mit plötzlichem Entschlusse leicht und frei über die Straße herausschwingt, wie das schmale Mühlgässchen sich zu jener Zeit noch mit steilem Gefäll zwischen die stürzende Ammer und die hohe, modrige Stadtmauer zwängte, während der Österberg seinem schön bebuschten Fuß bis in die Ammer herabstreckte und ein anderer stiller Garten oben von der Mauer zum Gegengruße heruntersah, das sind Züge, die nie im Geist verlöschen. Von der Mitte der unvergesslichen alten Neckarbrücke führte eine steile Holzstiege auf den Wöhrd.