einem großen Gemeinwesen anzugehören und schon viel gesehen zu haben. Ich beneide Sie.
Die leise Bitterkeit dieser Worte war die Folge der unsäglich beengenden Verhältnisse des damals noch ungeeinten Deutschland. Ich aber fühlte mich dadurch gehoben, als ob man mir ein Adelsdiplom auf den Tisch gelegt hätte.
Jene Nacht wurde die Geburtsnacht einer Freundschaft, die durch eine Reihe von Jahren den stärksten Inhalt meines Lebens gebildet hat. Wir schlossen uns zusammen, wie wenn jeder dem andern bisher zu seinem Dasein gefehlt hätte. Ich bewunderte ihn als Vorbild altvererbter, veredelter Kultur, er sah in mir, wonach sein heftiges Verlangen stand: Freiheit und Weltweite.
Sie haben noch gar nichts gedacht, aber Sie haben gelebt, pflegte er mir unter den verschiedensten Formen immer wieder zu sagen. Ich, der nicht leben darf, wandere mit dem Geist durch Raum und Zeit; so geben wir zwei zur Not einen ganzen Menschen.
Gustav Borck stammte aus altpreußischem Militäradel, für den es sich von selbst verstand, dass der einzige Sohn einer töchterreichen Offiziersfamilie, deren Vorfahren die Schlachten Friedrichs mitgeschlagen hatten, in der Kriegsschule erzogen wurde. Allein dieser feurige und selbstherrliche Mensch war wie durch ein Versehen der Natur in seine steifleinene Umwelt hineingeboren; statt wie die Kameraden mit vollen Lungen den Kastengeist einzuatmen, behielt er auch in der Anstalt seinen eigenen Geist, mit dem er bei Vorgesetzten und Mitschülern anstieß. Zu Hause in den Ferien war es fast noch schlimmer, denn da herrschte dieselbe strengsoldatische Lebensauffassung, und er konnte sich weder mit den Eltern noch mit den Schwestern verstehen, die die Dienstordnung auswendig wussten und von nichts redeten als von Übungsplatz und Truppenschau. Sein Vater, ein Veteran aus den Schleswig-Holsteinschen Kämpfen, der mit einer Kugel im Bein, die er sich vor den Düppler Schanzen geholt hatte, und dem Oberstenrang verabschiedet war, erwartete im stillen Großes von diesem Sohne, behandelte ihn aber mit Strenge, um sein Freiheitsgefühl und die Neigung zu außermilitärischen Dingen in ihm niederzuhalten. Es half nichts, dass dieser in der Anstalt nicht bloß als begabtester Kopf, sondern auch als bester Reiter und Fechter galt; was sein Vater an ihm vermisste, konnte und wollte er sich nicht geben. Nur an seine frühesten Jugendjahre, die er bei einem mütterlichen Oheim in Paderborn zubrachte, dachte er mit Freude als an die einzig glückliche Zeit seines Lebens zurück. Der alte Herr war Justizbeamter, hatte aber so etwas wie ein Poetengemüt und widmete seine ganze freie Zeit der Erkundung und Sammlung vaterländischer Altertümer. Seine umfangreiche Bibliothek, worin der frühreife Knabe ungehindert wühlte, und die Stille der norddeutschen Ebene gaben seiner Fantasie eine überschwengliche Nahrung und förderten den Hang zum Grenzenlosen, der von Natur in ihm lag. So konnte er sich in einem Beruf, wo jeder Schritt von oben gelenkt und nirgends Raum für das Persönliche war, nicht anders als todunglücklich fühlen.
Da kam das Jahr Sechsundsechzig. Mit Jubel zog er von der Kriegsschule weg ins Feld, denn der Krieg bedeutete ihm Freiheit und Leben. Er fand bei der schweren Verwundung seines unmittelbaren Vorgesetzten die Gelegenheit, sich auszuzeichnen und kehrte mit den Achselstücken und der Aussicht auf eine rasche Laufbahn im Generalstab nach Hause. Jetzt war das Entzücken der Familie groß, aber nach zwei Jahren voll Zwiespalt und Pein machte er allem Wünschen und Hoffen ein jähes Ende, indem er den bunten Rock auszog, um zu studieren. Jener Mutterbruder, dem er die schönen Jahre seiner Kindheit verdankte, hatte bei dem Entschluss mitgewirkt. Damit wurde die Kluft zwischen ihm und seinem Elternhause unausfüllbar; die Mutter zog sich scheinbar noch weiter von ihm zurück als der Vater, sie schämte sich, dem Mann, den sie liebte, keinen Sohn nach seinem Herzen geboren zu haben. Mit solchem Riss im Leben lief Gustav Borck in den ersehnten Hafen der Hochschule ein. Nach Rat und Beispiel des Oheims wählte er die Jurisprudenz, der er denn auch mit Pflichtgefühl oblag, aber nur um jetzt am Ziel seiner Wünsche zu erkennen, dass ihn das Rechtswesen genau so öde anblickte wie das Soldatenspiel im Frieden. Nur an den brotlosen Nebenfächern, die er um so feuriger trieb, erlabte sich seine lechzende Seele. In die kleine Universitätsstadt am Neckar hatte ihn, wie so manchen Norddeutschen, der Ruf gezogen, dass dort wohlfeil zu leben sei, auch war einer der juristischen Lehrstühle glänzend besetzt; den Ausschlag mochte jedoch der Wunsch gegeben haben, so weit wie möglich von seiner Familie entfernt zu sein.
So kam es, dass Gustav Borcks Lebensweg sich auf diesem Kreuzungspunkt mit dem meinen treffen musste, und von all den vielgestalten Begegnungen meines Lebens ist keine innerlich bedeutungsvoller für mich geworden als diese. Auf allen Gebieten des Geistes, die ich als tastender Neuling betrat, gehabte er sich wie ein König im angestammten Reiche. Gingen wir nach der Vorlesung noch eine Strecke zusammen, so vernahm ich aus seinem Munde manches Wort über den gleichen Gegenstand, das mir hundertmal mehr zu denken gab, als die Worte des Lehrers, und vieles hat sich damals meinem Gedächtnis eingeprägt, was ich erst in reiferen Tagen richtig verstehen konnte. Es schien mir dann immer, als hätte er einen Geheimschlüssel zu all den Dingen, vor deren Tür die andern im Dunkel tappten.
Eines Tages nach einem trockenen Shakespeare-Kolleg, das ich jedoch pflichtschuldig nachgeschrieben hatte, sollte ich plötzlich inne werden, was für ein Schlüssel das war.
O die Methode! die Methode! sagte er. Die Erbsünde der Deutschen! Mit was für Hebeln und Schrauben gehen sie dem armen Genius zu Leibe. Der aber macht sich schlank und schlüpft ihnen aus den Händen und lässt die ganze staunenswerte Gelehrsamkeit im Dunkeln suchen und raten, wie er zu Werke geht.
Wie geht er nach Ihrer Ansicht zu Werke? fragte ich, nach jedem seiner Worte begierig wie nach einem Goldkorn haschend.
Er lachte leise vor sich hin.
So ist’s recht. Sie fragen wie ein Mohikaner, ohne alle Gelehrsamkeit, aber zum Zweck. Wie geht er zu Werke? Gar nicht geht er zu Werke. Er sucht nicht die Poesie, sie kommt zu ihm, er atmet sie ein und aus, er findet nur sie im Leben, weil er alles andere als leere Schale liegen lässt.
Aber auf welchem Wege kommt sie zu ihm?
Durchs Ohr.
Durchs Ohr?
Jawohl, durch das offene Ohr, in das alles Lebende seine Beichte flüstert. Warum sind Goethe, Shakespeare, Dante so groß, als weil sie die größten Beichtväter des Menschengeschlechtes waren? Und keiner ist berechtigt, sich einen Dichter zu nennen, dem es nichts von seinen geheimsten Heimlichkeiten anvertrauen mag. Es sind ausgeplauderte Beichtgeheimnisse, womit uns Shakespeare oft so jählings bis ins Mark erschüttert.
Meinte