ich ihn ganz und gar nicht verstand, es schien mir vielmehr, als ob er sich geradezu widerspreche.
Der Stoff, den der Dichter zu kneten bekommen hat, sagte er mit Nachdruck, mehr und mehr in Feuer geratend, ist immer nur er selbst. Wohl findet er auch in seiner Umwelt die lebendigen Ansätze zu seinen Charaktergebilden, und wo ihm ein solcher begegnet, da schießen ihm gleich die verwandten Züge von allen Seiten zu. Aber den zeugenden Urstoff, in dem sie sich zur unlöslichen, naturgewollten Einheit zusammenfinden, den Lebensfunken, der sie erst stehen und gehen macht, holt er aus dem eigenen Innern. Denn in sich hat er das Zeug zu allen Charakteren und Leidenschaften, er umspannt mit seiner Natur die ganze Stufenleiter der Menschheit und reicht von der einen Seite bis an den Heiligen, mit der andern an den Verbrecher. Diese Fähigkeiten aber, die ihm nicht des Handelns wegen gegeben sind, ruhen zunächst unbewusst und untätig in ihm; sie wollen erst aufgeregt und befruchtet sein. Dafür ist nun das Leben da. Es berührt ihn mit irgendeiner Erfahrung, einem inneren Erlebnis, das vielleicht für einen anderen gar keines wäre, denn was ein rechter Poet ist, der erlebt fort und fort, von außen und von innen. Solch ein Erlebnis, sei es ein Vorgang oder vielleicht nur ein Wort, eine erhaschte Gebärde, irgendein Laut aus den Tiefen der Menschenbrust, ein Blick, der stärker getroffen hat, springt wie ein Keim in seine Seele. Da bleibt er unbewusst liegen, aber er ruht nicht, er verwandelt sich ganz leise und unbemerkt, er ist in Bälde nicht mehr, was er ursprünglich gewesen. Er wächst immer weiter, indem er verwandte Stoffe des Innern an sich zieht. Von diesen formlosen, aber innerlich befruchteten Zellengebilden ist des Dichters Seele ganz voll, sie tauchen beständig in ihm auf und nieder, er greift hinein, wenn er ihrer bedarf. Sie sind gleichsam der Urnebel, aus dem er seine Gestalten formt. So meinte ich das. Habe ich mich jetzt verständlich gemacht?
Ich nickte, um ihm nur nicht ganz als Böotier zu erscheinen. Aber tatsächlich schwankte mir das Hirn. Ich raffte alle meine Geisteskräfte zusammen, um zu der naheliegenden Frage zu kommen: Woher wissen Sie denn, wie dem Dichter zumute ist?
Weil ich auch einer bin.
Ich sah ihn mit scheuem Staunen von der Seite an. Alle Arten von Menschen hatte ich schon gesehen, Kaufleute und Soldaten, Richter, Geistliche und Zeitungsschreiber, einen Dichter niemals. Aber augenblicklich stand es in mir fest: Ja, er ist einer, so muss ein Dichter aussehen.
Gustav aber lachte plötzlich laut und bitter auf und schlug sich mit der Faust auf den Mund.
Ich ein Dichter? – Ein Bruder Langohr bin ich, der seinen Sack zur Mühle trägt wie die anderen auch. Vergessen Sie, was ich Ihnen da vorgeschwatzt habe. Wer darf überhaupt von solchen höchsten Dingen reden? Es geht alles irre, ist alles nur Gestammel und Widerspruch.
Wenn ich meinem neuen Freund auch nicht immer auf seinen Denkwegen folgen konnte, so danke ich es doch ihm, dass ich nicht wie tausend andere mit einem Ranzen voll fertiger Begriffe, woran sich hernach nichts mehr ändern lässt, von der Hochschule gekommen bin. Denn nie ließ er mich ungestört die bequeme Straße einschlagen, auf der die Mehrzahl der studierenden Jugend hinter den Worten des Meisters herwandelte, immer wies er auf irgendeinen abseitigen Fußpfad, der nach einem einsamen Aussichtspunkt führte.
Allmählich fand sich ein kleiner Kreis von jungen Leuten zusammen, die alle in der gleichen Gedankenwelt lebten. Wir trafen uns des Abends in dem beliebten Studentenkaffeehaus Molfetta. Ein kleines Seitengelass, nicht größer als ein Alkoven, hart neben der Anrichte, wo die Schwester des Wirts, eine schöne blasse Südtirolerin, den Kaffee braute, das köstlich duftende Getränk von Mokka, Portoriko und gebranntem Zucker, für das sie eben so berühmt war wie für ihre dunklen, schwermütigen Augen, war der Schauplatz unserer Zusammenkünfte. Dieser bescheidene Raum hörte damals manchen anregenden Gedanken, manches ungewöhnliche Wort, das man gern in sein späteres Leben hinübergenommen hätte, zum Genuss des Augenblicks verrauschen. Denn dort saßen wir die halbe Nacht hindurch, fünf, sechs junge Gesellen mit Gustav Borck als unserem König.
Wenn ich an die Tafelrunde bei Molfetta zurückdenke, so drängen sich vor allem drei blonde, echt germanische Häupter in meine Erinnerung. Da war ein großer, hagerer Rheinländer mit bleichem Gesicht und starken Backenknochen, der einen verkürzten Arm hatte, Kuno Schütte, der nachmalige bekannte Theosoph. Er war schon damals ein Sonderling, der es liebte, nie genau wissen zu lassen, was er tat, und sich einen Anschein von Allgegenwart zu geben, indem er immer auftauchte, wo man ihn nicht erwartete. Er hatte denselben unwiderstehlichen Zug zu Gustavs Wesen wie ich, legte ihn aber auf seine eigene mystische Weise aus, indem er sich einbildete, ihm irgendwann in abgelebten Zeiten nahegestanden zu haben. Da war der stämmige, blatternarbige Heinrich Sommer, Preuße von Geburt und ehemaliger Theologe, der sich lange mit religiösen Zweifeln gequält hatte und noch in hohen Semestern zur Medizin übergegangen war, um später ein namhafter Chirurg zu werden. Da war endlich unser Benjamin, der rührend jugendliche und schöne Olaf Hansen, ein Landeskind, aber von schwedischen Ureltern stammend. Die übrigen waren mehr oder weniger Strohmänner, stumme Personen, und gehörten nicht zum festen Bestand unseres Kreises. Wir Fünfe aber hingen fest zusammen, durch Gustavs Überlegenheit wie mit einem gemeinsamen Stempel geprägt. Nach Studentenbrauch standen wir alle bald auf Du; nur Gustav Borck blieb außer der Vertraulichkeit und immer von einem letzten Rätsel wie von einer geheimnisvollen Wolke umgeben. Er beherrschte das Gespräch, auch wenn er schwieg, was oft halbe Abende lang der Fall war; er wirkte dann durch seine bloße Gegenwart geistig ein. Kam es zu Redekämpfen, so gab sein Wort den Ausschlag, und dabei fiel mir auf, dass er selten etwas ganz Außerordentliches, sondern meist nur das scheinbar Naheliegende sagte, das wir anderen übersehen hatten. War es ausgesprochen, so verstand es sich von selbst. Einzig Olaf Hansen traf zuweilen den Nagel noch besser auf den Kopf, aber bei ihm klang es, wie wenn ein Kind etwas Tiefsinniges sagt, dessen Tragweite ihm selber verborgen ist.
Am glücklichsten war ich, wenn Borck ein Buch aus der Tasche zog und aus Shakespeare oder Kleist vorlas. Er besaß zwar nicht die Gabe, von einer Rolle in die andere zu schlüpfen und dem Dichterwort mit der Stimme Körper und Farbe zu geben, dafür war sein nordisches Wesen zu spröde, aber er lebte dann so ganz in der Dichtung, dass keine Schönheit ungefühlt vorüberging, und der Raum füllte sich mit übermenschlichen Gestalten. Mitunter las er auch Gedichte vor, in derselben gleichmäßig gehobenen Tonart, und verlangte unser Urteil zu hören. Wir ahnten, dass es die seinigen waren, und da wir alle unter seinem Banne standen, so fanden wir die Gedichte wundervoll und lobten