Timothy Keller

Warum Gott?


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Erklärung ist nur auf den ersten Blick beunruhigend, ja erschreckend; in Wirklichkeit ist sie befreiend, ja begeisternd. Wir können den Sinn des Lebens nicht passiv aus den Fakten der Natur herauslesen, wir müssen die Antworten selber konstruieren … 66

      Das Christentum scheint ein Feind des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der kulturellen Flexibilität, ja des echten Menschseins zu sein. Doch dieser Einwand beruht auf falschen Vorstellungen darüber, was Wahrheit, was Gemeinschaft, was das Christentum, ja was Freiheit ist.

      Wahrheit ist unvermeidbar

      Der französische Philosoph Foucault schreibt: „Die Wahrheit ist ein Ding von dieser Welt. Sie entsteht nur durch vielfache Zwänge, darunter den regulären Auswirkungen der Macht.“67 Viele folgen Foucaults Behauptung, dass alle Wahrheitsansprüche in Wirklichkeit Machtspiele sind. Wenn ich behaupte, im Besitz der Wahrheit zu sein, versuche ich, Macht über meine Mitmenschen zu bekommen. Foucault war ein Schüler Nietzsches, und man muss es beiden lassen, dass sie bei ihrer Analyse keinen Unterschied zwischen „Rechten“ und „Linken“ machten. Wenn Sie Nietzsche gesagt hätten, dass „man den Armen Gerechtigkeit schaffen muss“, hätte er Sie gefragt, ob Sie das sagen, weil Sie wirklich die Gerechtigkeit lieben oder weil Sie eine Revolution anzetteln wollen, die Ihnen die Macht gibt.

      Doch das Argument, dass es bei der Wahrheit in Wirklichkeit um Macht geht, muss vor demselben Problem kapitulieren wie das Argument, dass Wahrheit immer relativ zu der Kultur ist, in der man sich befindet. Der Versuch, alle Wahrheitsbehauptungen auf diese oder ähnliche Weisen zu erklären, führt einen in eine Sackgasse. C. S. Lewis schreibt in seinem Buch Die Abschaffung des Menschen:

       Aber man kann nicht endlos wegerklären, sonst wird man plötzlich feststellen, dass man die Erklärung selbst wegerklärt hat. Man kann nicht endlos die Dinge „durchschauen“. Durch sie hindurchschauen hat nur Sinn, wenn man durch sie hindurch etwas sieht. Es ist gut, dass ein Fenster durchsichtig ist, weil die Straße oder der Garten dahinter undurchsichtig sind. Wie, wenn man auch durch den Garten hindurchsehen könnte? … Wenn man durch alles hindurchschaut, dann ist alles durchsichtig. Aber eine völlig durchsichtige Welt ist unsichtbar geworden. Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr. 68

      Wenn ich behaupte, dass alle Wahrheitsbehauptungen Machtspiele sind, dann gilt das ebenso für diese Behauptung. Wenn ich wie Freud sage, dass alle Wahrheitsaussagen über die Religion und Gott nur psychologische Projektionen zur Bewältigung von Schuld- und Unsicherheitsgefühlen sind, dann ist diese Aussage dies ebenfalls. Wer alles durchschaut – sieht nichts mehr.

      Wenn ich behaupte, dass alle Wahrheitsbehauptungen Machtspiele sind, dann gilt das ebenso für diese Behauptung.

      Foucault erhob selber den Wahrheitsanspruch, dass seine Analyse zutreffend sei, eben in dem Augenblick, als er die Kategorie der Wahrheit verwarf. Es geht offenbar nicht ohne Wahrheitsansprüche im Leben. Dass es ein Widerspruch in sich ist, zu behaupten, dass es keine Wahrheit gibt, und gleichzeitig gegen Unterdrückung zu kämpfen, ist ein Grund dafür, dass die postmoderne „Theorie“ und der „Dekonstruktivismus“ sich heute vielleicht schon wieder auf dem Rückzug befinden.69 G. K. Chesterton hat dies schon vor fast hundert Jahren vorausgesehen:

       Der neue Rebell ist ein Skeptiker, der nichts und niemandem vertraut … [aber] damit kann er nie wirklich ein Revolutionär sein. Denn jede Verurteilung setzt irgendeine Art von moralischer Lehre voraus … Daher ist der moderne Mensch, der rebelliert, praktisch zu keiner Rebellion mehr zu gebrauchen. Indem er gegen alles rebelliert, hat er das Recht verloren, gegen irgendetwas zu rebellieren … Es gibt ein Denken, das das Denken abschafft, und dies ist das einzige Denken, das man abschaffen sollte. 70

      Keine Gesellschaft kann total offen sein

      Das Christentum erwartet von seinen Gliedern, dass sie bestimmte Dinge glauben, wenn sie dazugehören wollen, es ist nicht für alle offen. Manche Kritiker meinen, das führe zu sozialen Spaltungen. Sie finden, dass menschliche Gemeinschaften für alle offen sein müssen, denn wir sind doch alle Menschen. Anhänger dieser Sicht weisen auf die vielen Stadtviertel hin, in denen Menschen verschiedener Rassen und Religionen friedlich zusammen leben und arbeiten. Damit so ein gemeinschaftliches Leben funktioniert, reicht es vollkommen, dass jeder die Rechte und Privatsphäre der anderen achtet und sich dafür einsetzt, dass alle den gleichen Zugang zu Bildung, Arbeit und politischer Mitbestimmung haben. In einer „liberalen Demokratie“, so heißt es, müssen nicht alle die gleiche Ethik haben.

      Leider macht es sich diese Sicht der Dinge etwas zu einfach. In Wirklichkeit basiert die liberale Demokratie auf einer ganzen Reihe von Grundannahmen, insbesondere der Betonung der Rechte des Individuums gegenüber der Gemeinschaft, der Trennung zwischen privater und öffentlicher Moral und der Unantastbarkeit der persönlichen Entscheidungsfreiheit – lauter Dinge, die vielen anderen Kulturen fremd sind.71 Eine liberale Demokratie gründet, wie jedes andere Gemeinwesen, auf ganz bestimmten gemeinsamen Überzeugungen. Die westliche Gesellschaft basiert auf Vernunft, Rechten und Gerechtigkeit, auch wenn es für diese Dinge keine allgemein anerkannte Definition gibt.72 Jede Vorstellung von Gerechtigkeit und Rationalität wurzelt in ganz bestimmten Vorstellungen über den Sinn des menschlichen Lebens, die nicht von allen geteilt werden.73 Die Idee einer Gesellschaft, die total offen ist, ist daher eine Illusion.74 Jede menschliche Gemeinschaft gründet auf bestimmten Überzeugungen und Werten, die automatisch Grenzen schaffen und die einen Menschen in ihre Kreise ein- und andere ausschließen.

      Jede menschliche Gemeinschaft gründet auf bestimmten Überzeugungen und Werten, die automatisch Grenzen schaffen und die einen Menschen in ihre Kreise ein- und andere ausschließen.

      Hier ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, eines der Vorstandsmitglieder des Zentrums für Schwule, Lesben und Transsexuelle in Ihrer Stadt verkündet: „Ich habe eine Bekehrung erlebt und glaube jetzt, dass Homosexualität Sünde ist.“ Nach einigen Wochen weigert er sich immer noch, diese Behauptung zurückzuziehen. Oder einer der Leiter einer Initiative gegen Schwulenehen sagt: „Ich habe entdeckt, dass mein Sohn schwul ist, und finde, er hat das Recht, seinen Partner zu heiraten.“ Egal, wie tolerant und flexibel die übrigen Mitglieder der jeweiligen Gruppe sind, der Tag kommt, wo sie den Rebellen sagen müssen: „Du kannst nicht mehr bei uns mitmachen, da du unser Anliegen nicht mehr teilst.“ Die erste dieser beiden Vereinigungen gilt als „liberal“, die zweite als „ausgrenzend“, aber in der Praxis gibt es kaum einen Unterschied zwischen ihnen. Beide gründen auf bestimmten Überzeugungen, die ihren Mitgliedern gemeinsam sind und die die Vereinigung für bestimmte Menschen öffnen und für andere schließen. Keine dieser Gruppen ist an sich „eng“, sondern sie verhalten sich so, wie Gruppen sich eben verhalten.

      Eine Gruppe, die ihre Mitglieder nicht auf bestimmte Überzeugungen und Praktiken festlegte, hätte keine erkennbare Identität und wäre gar keine „richtige“ Gruppe.75 Wir können eine Gruppe nicht schon deswegen als „ausgrenzend“ bezeichnen, weil sie gewisse Standards für die Mitgliedschaft in ihr hat. – Gibt es also gar keine Möglichkeit, zu sagen, ob eine Gruppe oder Gemeinschaft offen und menschlich oder eng und repressiv ist? Doch. Es gibt weitaus bessere Kriterien: Welche Gruppe vertritt Überzeugungen, die ihre Glieder dazu bringen, den Mitgliedern anderer Gruppen liebe- und respektvoll zu begegnen und ihnen und ihren Bedürfnissen zu dienen? Welche vertritt Überzeugungen, die ihre Glieder dazu bringen, Andersdenkende zu dämonisieren und zu bekämpfen, anstatt ihnen freundlich, bescheiden und gewinnend entgegenzutreten? Es ist völlig inakzeptabel, wenn Christen Ungläubigen verurteilend und intolerant begegnen,76 aber keine Kirche oder Gemeinde ist dafür zu kritisieren, dass sie von ihren Gliedern erwartet, dass diese gewissen Standards in Glauben und Lebenspraxis genügen. Jede Gruppe muss das von ihren Mitgliedern verlangen dürfen.

      Das Christentum ist keine kulturelle

      Zwangsjacke

      Dem Christentum wird ebenfalls nachgesagt, es sei eine kulturelle Zwangsjacke. Angeblich zwingt es Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen in ein Prokrustesbett und ist ein Feind von Pluralismus und Multikulturalismus. Tatsache ist, dass das Christentum sich gegenüber den unterschiedlichen Kulturen als flexibler (und vielleicht auch weniger destruktiv)