Timothy Keller

Warum Gott?


Скачать книгу

ist ganz anders erfolgt als bei den anderen Weltreligionen. Das Zentrum des Islams liegt noch heute in seiner Wiege – dem Nahen Osten. Die Länder, die die ersten demografischen Zentren des Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus waren, sind auch heute noch deren Zentren. Ganz anders das Christentum: Anfangs wurde es von Judenchristen dominiert und sein Zentrum lag in Jerusalem. Später war es griechisch-hellenistisch dominiert und sein Zentrum verlagerte sich in den nördlichen Mittelmeerraum. Noch später wurde es von den „Barbaren“ des westlichen und nördlichen Europa angenommen, und sein Zentrum fand sich nun in West- und Mitteleuropa und schließlich auch in Nordamerika. Heute lebt die Mehrheit der Christen in Afrika, Lateinamerika und Asien, und schon bald werden die Zentren des Christentums im Süden und Osten der Welt liegen.

      Im Jahre 1900 waren ganze 9 Prozent der Afrikaner Christen, und auf einen Christen kamen vier Muslime. Heute machen die Christen 44 Prozent der afrikanischen Bevölkerung aus;77 in den 1960er-Jahren überholte das Christentum den Islam.78 Zurzeit erleben wir ein explosionsartiges Wachstum der Kirchen in China,79 wo das Christentum nicht nur unter den Bauern wächst, sondern auch im sozialen und kulturellen Establishment, bis hin zur Kommunistischen Partei. Wenn das gegenwärtige Wachstum sich fortsetzt, werden in ca. 30 Jahren die Christen 30 Prozent der dann 1,5 Milliarden Menschen zählenden chinesischen Bevölkerung ausmachen.80

      Warum ist das Christentum in diesen Ländern so enorm gewachsen? Der afrikanische Forscher Lamin Sanneh gibt eine höchst interessante Antwort. Er sagt, dass die Afrikaner eine lange Tradition des Glaubens an eine übernatürliche Welt guter und böser Geister haben. Als sie anfingen, die Bibel in ihrer eigenen Sprache zu lesen, erkannten viele in Christus die große, endgültige Lösung ihrer eigenen historischen Sehnsüchte und Hoffnungen als Afrikaner.81 Sanneh schreibt:

       Das Christentum beantwortete diese historische Herausforderung mit einer Reorientierung der Weltanschauung … Die Menschen spürten in ihrem Herzen, dass Jesus ihre Hochachtung vor dem Heiligen und ihre Sehnsucht nach einem unbesiegbaren Retter nicht verspottete, und so schlugen sie ihre heiligen Trommeln für ihn, bis die Sterne am Himmel zu tanzen begannen. Nach diesem Tanz waren die Sterne nicht mehr klein und unbedeutend. Das Christentum half den Afrikanern, neue Afrikaner zu werden, und nicht umgemodelte Europäer. 82

      „Das Christentum half den Afrikanern, neue Afrikaner zu werden, und nicht umgemodelte Europäer.“

      Sanneh argumentiert, dass der Säkularismus mit seinem Antisupernaturalismus und Individualismus die einheimischen Kulturen und die afrikanische Identität viel mehr bedroht als das Christentum. In der Bibel lesen die Afrikaner von der Macht Jesu über die übernatürlichen, geistlichen Mächte des Bösen und wie er am Kreuz über sie triumphierte. Wenn Afrikaner Christen werden, wird ihre afrikanische Identität bekehrt, vervollständigt, erneuert und nicht durch eine europäische Identität oder was auch immer ersetzt.83 Der christliche Glaube gibt den Afrikanern die nötige Distanz, ihre Traditionen zu kritisieren, ohne sie abzulegen.84

      Ein interessantes Beispiel für kulturelle Anpassung ist meine eigene Gemeinde, die Redeemer Presbyterian Church in Manhattan. Ihr Wachstum in dieser Umgebung hat Beobachter überrascht, manche sogar schockiert. Immer wieder werde ich gefragt: „Wie schaffen Sie es, Tausende junger Erwachsener in solch einem säkularen Milieu zu erreichen?“ Die Antwort ist, dass der christliche Glaube in New York City das Gleiche getan hat wie an den tausend anderen Orten, wo er gewachsen ist: Er hat sich signifikant und positiv der Kultur seiner Umgebung angepasst, ohne dabei seine lehrmäßige Substanz aufzugeben.

      Die Grundlehren der Redeemer Church – die Göttlichkeit Christi, die Unfehlbarkeit der Bibel, die Notwendigkeit der persönlichen Wiedergeburt durch den Glauben an den Sühnetod Christi – stehen in Übereinstimmung mit dem Glauben der evangelikalen und Pfingstkirchen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und des Südens und Mittleren Westens der USA. Es sind Lehren, die uns oft in Konflikt mit den Lebensanschauungen vieler Menschen in unserer Stadt bringen. Doch andererseits haben wir bereitwillig andere Aspekte der städtischen, pluralistischen Kultur um uns her übernommen. Wir schätzen das kulturelle Leben, das Miteinander der Rassen, betonen den Einsatz für Gerechtigkeit für alle Bewohner der Stadt und kommunizieren in der Sprache und durch die Brille unserer innenstädtischen Kultur. Nicht zuletzt betonen wir die Gnade eines Erlösers, der mit den vom Establishment sogenannten „Sündern“ zu Tische saß und selbst seine Feinde liebte. All dies sind Dinge, die für die Leute von Manhattan sehr wichtig sind.

      Das Ergebnis ist eine Gemeinde, die sehr heterogen zusammengesetzt und urban geprägt ist. Vor einem Gottesdienst stellte John DeLorean meiner Frau, Kathy, den Mann vor, der direkt vor ihr saß und den er mitgebracht hatte. Er war der Redenschreiber für einen konservativen Präsidentschaftskandidaten der Republikaner. Kurz darauf tippte ihr eine Frau, die hinter ihr saß, auf die Schulter, um ihr ihren Gast vorzustellen: Sie hatte den Mann mitgebracht, der damals die Texte für die Popsängerin Madonna schrieb. Kathy war begeistert, dass sie beide da waren; sie hoffte nur, dass sie sich nicht sehen würden, bevor sie die Predigt gehört hatten!

      Vor einigen Jahren besuchte ein Mann aus dem Süden der USA unsere Gemeinde, der gehört hatte, dass wir trotz traditionell christlicher Lehre inmitten dieser säkularen Stadt der Skeptiker enorm gewachsen waren. Er erwartete, dass wir die Leute mit der allerneuesten Musik, Videoclips, professionellen Bühnen-Sketchen, einer besonders hippen Atmosphäre und tollen Effekten köderten. Zu seiner großen Überraschung erlebte er einen schlichten, traditionellen Gottesdienst, der äußerlich nicht anders zu sein schien als das, was ihm aus seiner konservativeren Welt geläufig war. Aber er sah auch, dass bei uns viele Menschen waren, die nie im Leben in die Kirchen gegangen wären, die er kannte. Nach dem Gottesdienst kam er zu mir und sagte: „Das ist mir wirklich ein Rätsel! Wo ist der tanzende Bär? Wo sind die Gags? Warum kommen all diese Leute zu euch?“

      Ich führte ihn zu einigen „Stadtkünstler-Typen“, die seit einiger Zeit in die Gemeinde kamen, und sie machten ihm Mut, hinter die Kulissen zu schauen. Einer sagte, dass der Unterschied zwischen der Redeemer Church und anderen Gemeinden groß war und in „Humor, Mitmenschlichkeit und Demut“ bestand. Sie sagten, dass es bei uns nicht jene pompös-sentimentale Sprache gab wie in den anderen Kirchen, die sie so als Seelenmassage empfanden. Stattdessen begegneten bei uns die Leute einander mit einer freundlichen Selbstironie. Sie erklärten weiter, dass der Glaube in der Redeemer Church mit einer solchen Freundlichkeit und Demut vertreten wurde, dass die Menschen von Manhattan sich angenommen fühlten, auch wenn sie die Glaubensüberzeugungen der Gemeinde nicht teilten. Vor allem aber, so fuhren sie fort, war die Predigt und die ganze Kommunikation in unserer Gemeinde intelligent und ausgewogen und nahm Rücksicht auf die Gefühle der Hörenden.

      All diese Dinge sind Türöffner in Manhattan, aber sie alle wurzeln in der ursprünglichen christlichen Lehre. Die Betonung des Miteinanders der Rassen z.B. kommt aus dem 2. Kapitel des Epheserbriefs, wo Paulus in dem Miteinander von Juden und Nichtjuden in der Gemeinde ein wichtiges Zeugnis für die Wahrheit der christlichen Botschaft sieht. Oder ein anderes Beispiel: Reinhold Niebuhr hat darauf hingewiesen, dass der dezent ironische Humor darüber, wie die Menschen versuchen, wie Gott zu sein, und es nicht schaffen, eine sehr christliche Art ist, die Realität zu sehen.85 Weil all dies tiefe Wurzeln in der ursprünglichen christlichen Lehre hat, handelt es sich dabei nicht um „Vermarktungstechniken“.

      Warum ist es unter den Weltreligionen gerade dem Christentum gelungen, so viele radikal unterschiedliche Kulturen zu erreichen und zu prägen? Es gibt natürlich einen lehrmäßigen Kern (das Apostolische Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die Zehn Gebote u.a.), der für alle Varianten des Christentums gilt, aber es besteht eine große Freiheit in der Art, wie diese absoluten Aussagen in einer bestimmten Kultur Gestaltung und Ausdruck finden. Die Bibel fordert die Christen z.B. dazu auf, Gott mit Musik zu loben, aber sie gibt weder einen bestimmten Rhythmus oder Versmaß noch den Grad der Emotionalität oder die Instrumente vor; all dies kann kulturell ganz unterschiedlich aussehen. Der Historiker Andrew Walls schreibt:

       Die kulturelle Vielfalt kam … in Apostelgeschichte 15 in den christlichen Glauben, wo es heißt, dass die neuen Heidenchristen nicht die jüdische Kultur annehmen mussten. … Die Konvertiten mussten … eine hellenistische Art des Christseins entwickeln.