Timothy Keller

Warum Gott?


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und Marokko die Gleiche ist. … 86

      Es gibt einen lehrmäßigen Kern, der für alle Varianten des Christentums gilt, aber es besteht eine große Freiheit in der Art, wie diese absoluten Aussagen in einer bestimmten Kultur Gestaltung und Ausdruck finden.

      Bibeltexte wie Jesaja 60 und Offenbarung 21-22 beschreiben eine zukünftige Welt, die erneuert und vollkommen sein wird, in der wir aber unsere kulturellen Unterschiede beibehalten: Die Menschen kamen aus allen Nationen, Stämmen und Völkern; alle Sprachen der Welt waren zu hören“ (Offenbarung 7,9). Dies bedeutet, dass es in jeder Kultur von Gott gegebene Dinge gibt, die gut sind und das Leben der Menschheit bereichern. So wie jede Kultur ihre Schattenseiten hat, die von der christlichen Botschaft kritisiert und verändert werden, so hat auch jede Kultur ihre eigenen guten Elemente, die vom Christentum aufgenommen und verändert werden.

      Entgegen einer oft zu hörenden Meinung ist der christliche Glaube keine „westliche“ Religion, die einheimische Kulturen zerstört. Er hat vielmehr eine größere kulturelle Vielfalt entwickelt als jede andere Religion.87 Das Christentum enthält tiefe Weisheiten aus der hebräischen, griechischen und europäischen Kultur, und in den nächsten hundert Jahren werden Afrika, Lateinamerika und Asien ihm ihren Stempel aufdrücken. Das Christentum könnte man im ursprünglichen Sinne des Wortes als die „katholischste Vision von der Welt“88 bezeichnen, hat es doch im Laufe der Jahrhunderte unter seinen Führern Menschen aus allen Sprachen, Stämmen und Nationen gehabt.

      Freiheit ist nicht einfach

      Dem Christentum wird nachgesagt, es sei ein Hindernis für die Selbstverwirklichung des Einzelnen, weil es unsere Freiheit einschränkt, unseren Glauben und unseren Lebensstil selber zu wählen. Immanuel Kant definierte einen aufgeklärten Menschen als jemanden, der auf sein eigenes Denken vertraut und nicht auf irgendeine Autorität oder Tradition.89 Diese Ablehnung von Autoritäten, die ethische Entscheidungen vorgeben, ist inzwischen tief in unserer Kultur verwurzelt. Die Freiheit, seine eigenen moralischen Maßstäbe festzulegen, gilt als Vorbedingung vollwertigen Menschseins.

      Doch schon wieder darf man es sich so einfach nicht machen. Freiheit lässt sich nicht rein negativ definieren, als Abwesenheit von Einschränkungen und Vorgaben. In vielen Fällen sind Einschränkungen und Grenzen sogar ein Mittel der Freiheit.

      Wenn Sie musikalische Ambitionen haben, dann werden sie vielleicht jahrelang üben, üben und nochmals üben, um virtuos Klavier zu spielen. Das bedeutet aber eine Einschränkung Ihrer Freiheit. In der Zeit, wo Sie üben, können Sie hundert andere Dinge nicht tun. Doch wenn Sie wirklich Talent haben, werden Sie durch diszipliniertes Üben Fähigkeiten entwickeln, die sonst ungenutzt blieben. Was haben Sie also getan? Sie haben ganz bewusst einen Teil Ihrer Freiheit drangegeben, um eine höhere, reichere Freiheit zu gewinnen – die Fähigkeit, Musikstücke zu spielen, die Ihnen sonst verschlossen geblieben wären.

      Dies heißt nicht, dass Einschränkung, Disziplin und Üben immer und automatisch zu einer neuen Freiheit führen. Ein 1,60 Meter großer, schmächtiger junger Mann sollte seine Energie besser nicht darauf verschwenden, ein Rugby-Star werden zu wollen oder den Weltrekord im Kugelstoßen aufzustellen. Alle Disziplin und alles Üben der Welt werden ihn nur zu immer neuen Frustrationserlebnissen führen. Das physische Potenzial ist einfach nicht da. In unserer Gesellschaft arbeiten viele Menschen verbissen an Karrieren, die ihnen viel Geld bringen, aber überhaupt nicht ihrem Talent und ihren Interessen entsprechen. Solche beruflichen Lebensläufe sind Zwangsjacken, die auf Dauer erdrückend und unmenschlich sind.

      Einschränkungen und Grenzen machen uns nur dann frei, wenn sie zu unserem Naturell und Talent passen. Ein Fisch ist nur dann frei, wenn er sich auf den Lebensraum des Wassers beschränkt. Wenn wir ihn herausholen und ins Gras legen, wird seine Freiheit nicht größer, sie wird vernichtet. Der Fisch stirbt, wenn wir nicht seine gegebene Natur akzeptieren.

      In vielen Bereichen des Lebens ist Freiheit nicht so sehr die Abwesenheit von Grenzen als vielmehr die Kunst, sich die richtigen Grenzen zu setzen – die, die uns mehr Spielraum geben. Die Grenzen, die zu der Realität unseres Wesens und der Welt passen, geben unseren Fähigkeiten mehr Entfaltungsraum und vertiefen unsere Freude und Erfüllung. Experimente, Risiken und Fehler führen nur dann zu Wachstum, wenn sie uns nicht nur unsere Fähigkeiten, sondern auch unsere Grenzen aufzeigen. Und wenn wir körperlich, beruflich und in unserem Denken nur dann wachsen, wenn wir die richtigen Grenzen erkennen und akzeptieren, warum sollte dies dann nicht auch für unser moralisches und spirituelles Wachstum gelten? Ist es, anstatt auf der „Freiheit“ zu bestehen, unsere spirituelle Realität selber zu schaffen, nicht klüger, die bereits existierende Realität zu entdecken und dann unser Leben entsprechend einzurichten?

      Freiheit ist nicht so sehr die Abwesenheit von Grenzen als vielmehr die Kunst, sich die richtigen Grenzen zu setzen.

      Der beliebte Wunschtraum, dass jeder selber bestimmen sollte, was für ihn moralisch richtig und falsch ist, gründet in der Annahme, dass der Bereich des Spirituellen ganz anderen Gesetzen gehorcht als der Rest der Welt. Gibt es jemanden, der das im Ernst glaubt? Ich bin jahrelang nach jedem Gottesdienst eine weitere Stunde in unserem Gemeindesaal geblieben, um den Besuchern in einem Predigtnachgespräch Rede und Antwort zu stehen. Hunderte von Gottesdienstbesuchern blieben, um mich mit ihren Fragen zu löchern, und eine der häufigsten Aussagen, die ich dort hörte, lautete: „Jeder Mensch hat das Recht, selber zu bestimmen, was für ihn richtig und was falsch ist.“ Ich habe darauf immer mit folgender Frage geantwortet: „Gibt es in diesem Augenblick irgendwo in der Welt Menschen, die etwas tun, womit sie Ihrer Meinung nach sofort aufhören sollten, egal, wie diese Leute persönlich ihr Verhalten bewerten?“ Die Antwort lautete jedes Mal: „Ja, natürlich.“ Worauf ich sagte: „Heißt das dann nicht, dass Sie also doch glauben, dass es eine objektive moralische Realität gibt, die nicht von uns definiert wird und an die man sich halten muss, egal, was man persönlich fühlt oder denkt?“ Fast immer war die Reaktion ein (nachdenkliches oder grummelndes) Schweigen.

      Liebe, die höchste Freiheit, ist

      einschränkender als wir vielleicht denken

      Aber was ist denn nun die moralisch-spirituelle Realität, die wir anerkennen müssen, damit unser Leben gelingt? Was ist die Umgebung, die uns befreit, wenn wir uns ihr unterordnen, wie Wasser den Fisch befreit? Es ist die Liebe. Liebe ist der befreiendste Freiheitsverlust, den es gibt.

      Ob es um Freundschaft oder um die Liebe zwischen Mann und Frau geht, eines der Grundprinzipien der Liebe ist, dass ich meine Unabhängigkeit aufgebe, um Intimität zu gewinnen. Wenn Sie die „Freiheit“ der Liebe wollen – die Erfüllung, die Geborgenheit und das Gefühl, etwas wert zu sein –, müssen Sie Ihre persönliche Freiheit in vielen Bereichen einschränken. Man kann nicht eine tiefe Beziehung aufbauen und weiter sein Leben in eigener Regie führen, ohne Mitspracherecht des Freundes oder der geliebten Person. Um die Freude und Freiheit der Liebe zu erfahren, muss ich meine persönliche Autonomie aufgeben. Die französische Romanschriftstellerin Françoise Sagan hat dies in einem Interview mit der Zeitung Le Monde treffend ausgedrückt. Sie sagte, dass sie mit ihrem Leben zufrieden war und nichts bereute:

       Interviewer: Dann haben Sie also die Freiheit gehabt, die Sie wollten? Sagan: Ja … Das heißt, ich war natürlich weniger frei, wenn ich in jemanden verliebt war. … Aber man ist ja nicht ständig verliebt, und ansonsten … bin ich frei . 90

      Liebe ist der befreiendste Freiheitsverlust, den es gibt.

      Sagan hat recht. Eine Liebesbeziehung begrenzt meine persönlichen Optionen. Einmal mehr stehen wir vor der Komplexität des Begriffs der „Freiheit“. Wir Menschen sind dann am freiesten, ja am lebendigsten, wenn wir uns in einer Liebesbeziehung befinden. Erst als Liebende werden wir wirklich wir selber – aber eine gesunde Liebesbeziehung geht nicht ohne gegenseitiges selbstloses Dienen, ohne die gegenseitige Aufgabe von Unabhängigkeit. C. S. Lewis hat es brillant formuliert:

       Liebe irgendetwas, und es wird dir bestimmt zu Herzen gehen oder gar das Herz brechen. Wenn du ganz sicher sein willst, dass deinem Herzen nichts zustößt, dann darfst du es nie verschenken, nicht einmal an ein Tier. Umgib es sorgfältig mit Hobbys und kleinen