Walter Benjamin

Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)


Скачать книгу

daß es wagte, sich ihm zu nähern. Denn es war ein scheuer kleiner Vogel, der niemals gewagt hatte, in die Nähe eines Menschen zu kommen. Aber allmählich faßte es Mut, flog auf die Kreuze zu und zog mit seinem kleinen Schnabel einen spitzen Stachel aus der Stirn des Gekreuzigten.

      Doch während es dies tat, fiel ein Tropfen vom Blute des Gekreuzigten auf die Brust des Vögleins herab. Dieser verbreitete sich schnell und färbte alle die kleinen, zarten Federn der Kehle ganz rot.

      Und der Gekreuzigte öffnete seine Lippen und flüsterte dem Vogel zu: »Um Deiner Barmherzigkeit willen hast Du nun errungen, was Dein Geschlecht seit Erschaffung der Welt erstrebt hat.«

      Als der Vogel wieder in sein Nest kam, zwitscherten seine Kleinen ihm zu: »Deine Brust ist ja rot, Deine Kehlfederchen sind röter als Rosen!«

      »Das ist nur ein Blutstropfen von der Stirn des armen Mannes. Der wird verschwinden, sobald ich in einem Bächlein oder in einer klaren Quelle bade,« zwitscherte der Vogel zur Antwort.

      Aber wie oft auch das Rotkehlchen badete, die rote Farbe verschwand nicht mehr von seiner Brust, und als seine Kleinen herangewachsen waren, leuchtete die blutrote Farbe auch auf ihren Brustfedern, wie sie noch bis auf den heutigen Tag auf jedes Rotkehlchens Brustfedern leuchtet.

      Unser Heiland und Sankt Peter

       Inhaltsverzeichnis

      Es war damals, als unser Heiland und Sankt Peter eben ins Paradies gekommen waren, nachdem sie auf ihrer Erdenwanderung durch Jahre der Trübsal viel Schweres ertragen hatten.

      Man kann es sich vorstellen, daß dies eine Freude für Sankt Peter war. Man kann es verstehen, daß es ein ander Ding war, auf dem Berge des Paradieses zu sitzen und über die weite Welt hinzublicken, als von Tür zu Tür wandern zu müssen wie ein Bettler. Es war etwas ganz anderes, in den Paradiesgärten umherzustreifen, als auf Erden umherzugehn, ohne zu wissen, ob man in einer Sturmnacht ein schützendes Dach finden oder gezwungen sein würde, in Kälte und Finsternis auf der Landstraße weiterzuziehen.

      Man muß es sich nur ausmalen, welche Freude darin lag, nach einer solchen Lebensreise schließlich an den rechten Ort zu gelangen. Sankt Peter hatte wohl nicht immer so sicher sein können, daß alles gut ablaufen würde. Er hatte es durchaus nicht lassen können, manchmal zu zweifeln und beunruhigt zu sein, denn es war ja für den armen Sankt Peter fast unmöglich gewesen, zu begreifen, wozu es dienen sollte, daß sie es so schwer hatten, wenn unser Heiland ja doch einmal der Herr der ganzen Welt war.

      Jetzt konnte er wirklich darüber lachen, wieviel Trübsal er und unser Heiland erduldet hatten, und mit wie wenig sie sich auf Erden begnügen mußten.

      Einmal, als es ihnen so jammervoll gegangen war, daß er vermeinte, es nicht länger aushalten zu können, hatte unser Heiland ihn mitgenommen, um mit ihm einen hohen Berg zu ersteigen, ohne daß er ihm sagte, was sie dort oben zu tun hätten.

      Sie waren an Städten vorbeigewandert, die am Fuße des Berges lagen, und an Schlössern, die weiter oben winkten. An Bauernhöfen und Sennhütten vorübergehend, hatten sie die Felsenhöhle des letzten Holzhauers hinter sich gelassen.

      Schließlich waren sie dort angelangt, wo der kahle Berg ohne Baum und Strauch stand, und wo ein Eremit seine Hütte erbaut hatte, um bedrängten Wanderern beizustehn.

      Dann waren sie über Schneefelder gegangen, wo die Murmeltiere schlafen, und hatten die zerklüfteten, hochgetürmten Eismassen erreicht, die kreuz und quer standen, wo kaum ein Steinblock vorwärts zu kommen vermag.

      Dort oben hatte unser Heiland einen kleinen Vogel mit rotem Brustgefieder, der totgefroren auf dem Eise lag, aufgehoben und den kleinen Dompfaff eingesteckt. Und Sankt Peter erinnerte sich, daß er überlegt hatte, ob dieser Vogel wohl ihr Mittagessen sein würde.

      Sie waren lange Zeit über die glatten Eisstücke gewandert, und Sankt Peter vermeinte, dem Lande des Todes noch niemals näher gewesen zu sein, denn es wehte ein todkalter Wind, und ein toddunkler Nebel umhüllte sie, auch gab es im weiten Umkreis nichts Lebendiges. Und dennoch hatten sie erst die Mitte des Berges erklommen.

      Da hatte er unseren Heiland gebeten, umkehren zu dürfen.

      »Noch nicht,« sprach unser Heiland, »denn ich werde Dir etwas zeigen, das Dir Mut verleihen wird, alles Leid zu ertragen.«

      Darauf waren sie durch Nebel und Kälte weiter gewandert, bis sie eine unendlich hohe Mauer erreicht hatten, die ihren Weg hemmte.

      »Diese Mauer zieht sich um den ganzen Berg,« sprach unser Heiland, »und Du kannst sie nirgends übersteigen. Kein Lebender kann das geringste von dem erblicken, was sich jenseits dieser Mauer befindet, denn hier beginnt das Paradies, und hier am ganzen oberen Bergesabhang wohnen die seligen Toten.«

      Aber Sankt Peter hatte es nicht lassen können, mißtrauisch auszusehen. »Da drinnen herrscht nicht Finsternis und Kälte wie hier,« sprach unser Heiland, »sondern dort grünt der Sommer, und Sonnen und Sterne strahlen hell und klar.«

      Aber Sankt Peter mochte es ihm nicht glauben.

      Da nahm unser Heiland den kleinen Vogel, den er just zuvor auf dem Eisfelde gefunden hatte, beugte sich zurück und schleuderte ihn über die Mauer, so daß er im Paradiese niederfiel.

      Und alsogleich hörte Sankt Peter ein jubelndes, lustiges Gezwitscher, erkannte eines Dompfaffen Gesang und war höchlichst erstaunt.

      Er wandte sich zu unserem Heiland um und sagte: »Laß uns wieder zur Erde hinabsteigen und alles erdulden, was erduldet werden muß, denn nun erkenne ich, daß Du wahr gesprochen hast, und daß es einen Ort gibt, wo das Leben den Tod überwindet.«

      Und sie waren vom Berge hinabgestiegen und hatten ihre Wanderung von neuem begonnen.

      Dann hatte Sankt Peter lange Jahre nichts weiteres vom Paradiese erfahren, sondern sich nur nach dem Lande hinter jener Mauer gesehnt. Und nun war er endlich dort und brauchte sich nicht mehr danach zu sehnen. Nun konnte er den ganzen Tag aus nie versiegenden Quellen die Freuden mit vollen Händen schöpfen.

      Aber Sankt Peter war kaum vierzehn Tage im Paradiese, da geschah es, daß ein Engel zu unserm Heiland trat, der auf seinem Thron saß. Der Engel neigte sich siebenmal vor ihm und berichtete, daß ein schweres Unglück auf Sankt Peter zu lasten scheine. Er verschmähe Essen und Trinken und seine Augen seien so rotgerändert, als habe er nächtelang nicht mehr geschlafen. Sobald unser Heiland dies vernommen hatte, erhob er sich, um Sankt Peter aufzusuchen.

      Er fand ihn in einem weit entlegenen Winkel des Paradieses. Dort lag er auf der Erde hingestreckt, als wäre er zu ermattet, um aufzustehn, er hatte seine Kleider zerrissen und sein Haupt mit Asche bestreut.

      Als unser Heiland ihn so tiefbetrübt sah, setzte er sich neben ihn auf die Erde und redete geradeso zu ihm, wie er getan hätte, wenn sie noch unten auf jener Welt in Trübsal umhergewandert wären.

      »Was macht Dich denn gar so traurig, Sankt Peter?« fragte unser Heiland.

      Aber Sankt Peters Betrübnis war so übermächtig, daß er gar nicht zu antworten vermochte.

      Und abermals fragte unser Heiland: »Was macht Dich denn gar so traurig, Sankt Peter?«

      Bei der Wiederholung dieser Frage nahm Sankt Peter sich seine goldene Krone vom Haupte und warf sie unserem Heiland vor die Füße, als wollte er damit sagen, er wünsche von nun an nicht mehr an seiner Ehre und Herrlichkeit teilzuhaben.

      Unser Heiland erkannte jedoch sogleich, daß Sankt Peter zu verzweifelt war, um zu wissen, was er tat. Und deshalb wurde er auch gar nicht zornig über sein Gebaren.

      »Du mußt mir doch endlich sagen, was Dich so quält,« sprach er voll Sanftmut wie zuvor und mit noch zärtlicherer Stimme.

      Doch nun sprang Sankt Peter auf, und da merkte unser Heiland, daß er nicht nur traurig, sondern auch ergrimmt war. Mit geballten Fäusten und funkelnden Augen trat er auf unseren Heiland zu.

      »Ich