Walter Benjamin

Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)


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rel="nofollow" href="#uacb4aeb2-da0d-5679-931e-39dbd62ded41">Inhaltsverzeichnis

      In der ersten Nacht nach der Eroberung Jerusalems herrschte im Lager der Kreuzfahrer, das sich außerhalb der Stadt befand, große Freude. Fast in jedem Zelt wurde der Sieg durch Trinkgelage gefeiert, und in weitem Umkreise vernahm man Lärm und Gelächter. Auch Raniero di Ranieri saß trinkend mit einigen Kriegskameraden beisammen, und in seinem Zelt ging es fast noch wilder zu als in den anderen Zelten. Die Diener hatten kaum die Becher gefüllt, so waren sie auch schon wieder leer.

      Raniero hatte allerdings den triftigsten Grund, ein großes Fest zu feiern, weil er an jenem Tage höhere Ehren errungen hatte denn jemals zuvor. Am Morgen, als die Stadt erstürmt wurde, war er, nächst Gottfried von Bouillon, der erste, der die Mauer erstieg, und am Abend war er angesichts des ganzen Heeres um seiner Tapferkeit willen hoch geehrt worden. Denn als das Plündern und Morden endlich aufgehört hatte und die Kreuzfahrer in Bußgewändern und mit noch unentzündeten Wachskerzen in die heilige Grabeskirche eingezogen waren, hatte Gottfried ihm verkündigt, daß er als erster seine Kerze an den heiligen Flammen entzünden solle, die vor Christi Grab brennen. Raniero erkannte daran, daß Gottfried auf diese Weise zeigen wollte, er betrachte ihn als den tapfersten Helden des ganzen Heeres, und er war hocherfreut über einen solchen Lohn seiner Heldentaten.

      Gegen Mitternacht, als Raniero und seine Gäste in bester Laune waren, kam einer der Narren mit mehreren Spielleuten die in dem ganzen Lager umhergelaufen waren und die Leute mit ihren Possen ergötzt hatten, in Ranieros Zelt, wo der Narr um Erlaubnis bat, ein lustiges Abenteuer zu berichten.

      Raniero wußte, daß jener Narr wegen seines Witzes sehr gerühmt wurde, und er versprach, die Erzählung anzuhören. Da sprach der Narr:

      »Es geschah einmal, daß unser Heiland und Sankt Peter einen ganzen Tag auf dem höchsten Turm der Burg des Paradieses saßen und zur Erde hinunter blickten. Dort gab es für sie so viel zu begucken, daß sie kaum Zeit fanden, ein Wort zu wechseln. Unser Heiland hatte sich die ganze Zeit über ruhig verhalten, aber Sankt Peter hatte bald vor Freude in die Hände geklatscht, bald aber wieder voll Abscheu den Kopf hinweggewendet. Bald hatte er gejubelt und gelacht, dann wieder geweint und geklagt. Endlich, als der Tag sich neigte und Abenddämmerung auf das Paradies niedersank wandte sich unser Heiland an Sankt Peter und meinte, nun müsse er doch wohl froh und zufrieden sein. ›Womit soll ich denn eigentlich zufrieden sein?‹ fragte nun Sankt Peter in heftigem Tone. – ›Ja, ich glaubte, Du seiest mit dem, was Du heute gesehen hast, zufrieden,‹ entgegnete unser Heiland sanftmütig. Doch Sankt Peter wollte sich nicht beschwichtigen lassen. – ›Freilich, seit Jahr und Tag beklage ich, daß Jerusalem sich in der Gewalt der Ungläubigen befindet, aber nach alldem, was heute geschehen ist, finde ich, es hätte ebensogut alles bleiben können, wie es war.‹«

      Raniero merkte bald, daß der Narr von den Geschehnissen des verflossenen Tages redete. Er und die anderen Ritter hörten nun aufmerksamer zu als am Anfang.

      »Als Sankt Peter also gesprochen hatte,« fuhr der Narr in seiner Erzählung fort, indem er einen verschmitzten Blick auf die Ritter warf, »lehnte er sich über die Turmzinnen hinaus und wies auf die Erde hin. Dort zeigte er unserem Heiland eine Stadt, die auf einem mächtigen, einsamen Felsen lag, der aus einem Gebirgstal emporragte. ›Erkennst Du diese Leichenhaufen?‹ fragte er, ›und siehst Du, das Blut, das durch die Straßen rinnt, und siehst Du die nackten, elenden Gefangenen, die in der Nachtkälte jammern, und siehst Du all die rauchenden Brandstätten?‹ Unser Heiland schien nichts entgegnen zu wollen, so daß Sankt Peter in seinen Klagen fortfuhr. Er sagte, wohl habe er dieser Stadt oft heftig gezürnt, aber niemals habe er ihr dermaßen übel gewollt, daß es dort einmal so aussehen solle. Da endlich antwortete unser Heiland und versuchte eine Einwendung zu machen. – ›Du kannst doch nicht leugnen, daß die christlichen Ritter mit der größten Unerschrockenheit ihr Leben gewagt haben.‹«

      Hier wurde der Narr durch Beifallsrufe unterbrochen, aber er beeilte sich fortzufahren.

      »Nein, unterbrecht mich nicht. Jetzt erinnere ich mich nicht, was ich zuletzt sagte. Ja, jetzt habe ich es, ich wollte eben erzählen, daß Sankt Peter sich ein paar Tränen aus den Augen wischte, die ihn am Sehen hinderten. ›Nimmer hätte ich geglaubt, daß sie solche wilden Tiere sein würden,‹ sprach er. ›Sie haben ja den ganzen Tag gemordet und geplündert. Ich begreife gar nicht recht, daß es Dich danach verlangte, Dich kreuzigen zu lassen, um Dir solche Bekenner Zu schaffen.‹«

      Die Ritter nahmen den Scherz gut auf. Sie stimmten ein lautes, fröhliches Gelächter an, und einer von ihnen rief: »Also Sankt Peter ist wirklich so zornig über uns, he, Narr?«

      »Du sei jetzt ruhig und laß den Narren berichten, ob unser Heiland nichts zu unserer Verteidigung sagte!« fiel ein anderer ein.

      »Nein, unser Heiland schwieg erst still,« sagte der Narr. »Er wußte ja von altersher, daß es gar nicht der Mühe lohnte, Sankt Peter zu widersprechen, sobald der einmal sich erboste. Er blieb auch gut im Zuge und sagte, unser Heiland sollte es sich nicht einfallen lassen, ihm etwa zu sagen, daß sie sich schließlich doch besonnen hätten, in welche Stadt sie gekommen wären, und daß sie barfuß und im Büßergewande in die Kirche gegangen seien. Ihre Andacht sei ja so kurz gewesen, daß es sich gar nicht verlohne, überhaupt davon zu reden. Und dabei beugte er sich noch einmal über die Turmzinne hinaus und wies auf Jerusalem hinunter. Er deutete auf das Kriegslager der Christen davor. ›Siehst Du, wie Deine Ritter ihren Sieg feiern?‹ fragte er. Und unser Heiland sah, daß im ganzen Lager Zechereien abgehalten wurden. Ritter und Knechte sahen den syrischen Tänzerinnen zu. Die vollen Becher kreisten, es wurde um die Kriegsbeute gewürfelt, und – –«

      »Man hörte Narren zu, die alberne Märchen erzählten,« fiel Raniero ein. »War das nicht auch eine große Sünde?«

      Der Narr lachte und nickte Raniero zu, als wollte er sagen: ›Warte, Dir werde ich es noch heimzahlen.‹«

      »Nein, unterbrecht mich nicht,« bat er nochmals. »Ein armer Narr vergißt so leicht, was er sagen wollte. Ja, also der heilige Petrus fragte unseren Heiland mit strengster Stimme, ob er finde, daß jene Leute ihm große Ehre machten. Natürlich mußte unser Heiland darauf entgegnen, daß er dies durchaus nicht fände. Und Sankt Peter sprach: ›Sie waren Räuber und Mörder, ehe sie ihre Heimat verließen, und noch heute sind sie Mörder und Räuber. Dieses ganze Kriegsabenteuer hättest Du ebenso gut hintertreiben können. Gutes kann dabei nicht herauskommen.‹«

      »Ei, ei, Narr!« rief Raniero mit warnender Stimme. Aber der Narr schien eine Ehre darein zu setzen, zu erforschen, wie weit er wohl gehen könnte, ohne daß sich jemand auf ihn stürzte, um ihn hinauszuwerfen. Also fuhr er unverzagt fort:

      »Unser Herr neigte nur das Haupt, wie jemand, der einsieht, daß er gerecht bestraft wird. Aber fast in demselben Augenblick beugte er sich eifrig vor und blickte aufmerksamer als zuvor auf die Erde hinab. Da guckte auch Sankt Peter hinunter und fragte: ›Wo nach schaust Du denn nur?‹«

      Der Narr beschrieb dies mit einem sehr lebendigen Mienenspiel. Alle Ritter sahen unseren Heiland und Sankt Peter vor Augen, und sie wollten gar zu gern erfahren, was unser Heiland wohl erblickt haben mochte.

      »Unser Heiland erwiderte, es sei eigentlich nichts,« erzählte der Narr, »aber er blickte jedenfalls aufmerksam hinunter. Sankt Peter folgte der Richtung seines Blickes, konnte aber nichts anderes entdecken als ein großes Zelt, vor dem ein paar Sarazenenköpfe an langen Lanzen aufgespießt waren, und wo eine Menge prächtiger Teppiche, goldener Tischgeräte und kostbarer Waffen aufgestapelt lagen, die in der heiligen Stadt erbeutet waren. In jenem Zelt ging es ebenso zu wie in allen anderen Lagerzelten. Dort saßen viele Ritter, die ihre Becher leerten. Der einzige Unterschied mochte darin bestehen, daß dort noch mehr gelärmt und getrunken wurde als in allen anderen Zelten. Sankt Peter vermochte es nicht zu begreifen, weshalb unser Heiland so befriedigt darauf hinblickte, daß seine Augen geradezu vor Freude strahlten. Petrus meinte, noch niemals zuvor so viele harte und schreckliche Gesichter bei einem Zechgelage beisammen gesehen zu haben. Und der Wirt dieser Gasterei, der obenan saß, war der schrecklichste unter allen. Es war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unheimlich groß und ungeschlacht, mit einem glutroten Gesicht, das von Narben und Rissen wie zerfetzt war,