Walter Benjamin

Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)


Скачать книгу

war sehr verwundert, daß die Tierchen keine Furcht vor ihm hatten, und er sagte sich: »Es rührt daher, daß sie wissen, wie ich nunmehr keinen anderen Gedanken habe, als das zu schützen, was das am meisten Verletzliche ist, und deshalb ängstigen sie sich nicht vor mir.«

      * * *

      Raniero kam auf seinem Ritt in die Nähe von Nicäa. Dort begegnete er einigen Rittern aus dem Abendlande, die ein neues Hilfsheer nach dem heiligen Lande führten. Unter ihnen befand sich Robert Taillefer, der ein Troubadour war und als wandernder Ritter die Welt durchzog.

      Als Raniero in seinem zerschlissenen Pilgermantel, mit der Kerze in seiner Hand, dahergeritten kam, riefen die Kriegsleute, wie gewöhnlich alle, die ihm begegneten: »Ein Wahnsinniger, ein Wahnsinniger!« Doch Robert Taillefer gebot ihnen Schweigen und fragte den Reiter:

      »Bist Du solchermaßen weit hergezogen?«

      Und Raniero antwortete: »So wie Du mich hier siehst, reite ich von Jerusalem daher.«

      »Und ist auf diesem lange Wege Deine Kerze nicht oftmals erloschen?«

      »An meiner Kerze brennt noch dieselbe Flamme, die in Jerusalem entzündet ward,« antwortete Raniero.

      Da sprach Robert Taillefer zu ihm: »Auch ich bin einer von jenen, die eine Flamme tragen, und ich möchte sie ewig brennend erhalten. Vielleicht vermagst Du, der seine Kerze brennend von Jerusalem bis hierher getragen hat, mir zu künden, was ich tun muß, auf daß sie nimmer erlösche.«

      Und Raniero erwiderte: »Herr, das ist ein gar mühselig Tun, wiewohl es geringfügig erscheinen mag. Ich möchte Euch nie und nimmer zu solch einem Beginnen zureden, denn diese kleine Flamme fordert von Euch, daß Ihr gänzlich unterlasset, an irgend etwas anderes zu denken. Sie gestattet Euch nicht, eine Herzliebste zu haben, so Ihr danach Verlangen traget, auch dürfet Ihr um der Flamme willen nimmer wagen, an einem Trinkgelage teilzunehmen. Ihr dürfet an nichts anderes denken als an diese Flamme, und keine andere Freude darf Euch erfüllen. Aber warum ich Euch am allermeisten widerrate, die gleiche Pilgerfahrt zu unternehmen, die ich jetzt versucht habe, das ist der Gedanke an das Gefühl der beständigen Unsicherheit. Wie vielen Gefahren Ihr auch die Flamme entrissen haben möget, so könntet Ihr Euch doch keinen Augenblick sicher wähnen, sondern müßtet in steter Angst schweben, daß der nächste Augenblick Euch dennoch ihrer berauben könnte.«

      Doch Robert Taillefer hob stolz sein Haupt und entgegnete ihm: »Was Du für Deine Lichtflamme getan hast, das werde auch ich für die meine zu tun vermögen.«

      * * *

      Raniero war nach Italien gekommen. Er ritt eines Tages über einsame Gebirgspfade hin. Da eilte plötzlich ein Weib auf ihn zu und bat ihn um Feuer von seiner Kerze. »Unser Feuer ist erloschen, meine Kinder hungern. Leihe mir Dein Licht, auf daß ich die Flammen auf meinem Herde entzünden kann, um Brot für sie zu backen!«

      Sie streckte die Hand nach der Kerze aus, aber Raniero gab sie ihr nicht, weil er nicht wollte, daß jene Flamme etwas anderes entzünden sollte als die Kerzen vor dem Bildnis der heiligen Jungfrau.

      Doch das Weib sprach zu ihm: »Gib mir Feuer, Pilger, denn das Leben meiner Kinder ist die Flamme, die ich brennend erhalten muß!« Und um dieser Worte willen ließ Raniero sie den Docht in ihrer Lampe an seiner Flamme entzünden.

      Einige Stunden später ritt Raniero in ein Dorf. Es lag hoch im Gebirge, so daß dort bittere Kälte herrschte. Ein junger Bauer stand am Wege und betrachtete den armen Reiter in seinem zerschlissenen Pilgermantel. Rasch zog er seinen kurzen Mantel aus und warf ihn jenem Armen zu. Aber der Mantel fiel gerade auf das Licht und verlöschte die Flamme.

      Da gedachte Raniero jenes Weibes, das Feuer von ihm entliehen hatte. Er ritt zu ihr zurück und entzündete seine Kerze an dem heiligen Feuer.

      Als er weiterreiten wollte, sprach er zu ihr: »Du sagtest, daß die Lichtflamme, die in Deiner Obhut steht, das Leben Deiner Kinder sei. Kannst Du mir nun auch den Namen der Lichtflamme nennen, die ich auf langen Wegen hergetragen habe?«

      »Wo wurde Deine Lichtflamme entzündet?« fragte das Weib. Und Raniero antwortete:

      »Sie wurde an Christi Grab entzündet.«

      »Dann kann ihr Name wohl nur Milde und Menschenliebe sein,« erwiderte sie.

      Raniero lachte über diese Antwort, denn es dünkte ihn gar zu absonderlich, daß gerade er als Apostel und Träger solcher Tugenden gelten sollte.

      * * *

      Raniero ritt zwischen lieblichen, blauschimmernden Hügelketten dahin. Er merkte, daß er in der Nähe von Florenz war.

      Da kam ihm der Gedanke, daß er nun bald von seiner Lichtflamme befreit sein würde. Er gedachte seines Zeltes in Jerusalem, das er voller Kriegsbeute zurückgelassen hatte, und an die tapferen Krieger, die noch immer in Palästina waren, und die sich freuen würden, wenn er wiederum das Kriegshandwerk aufnehmen und sie zu Siegen und Eroberungen führen würde.

      Da merkte Raniero, daß er bei diesen Vorstellungen nicht die mindeste Freude empfand, sondern daß seine Gedanken eine ganz andere Richtung einschlugen.

      Und er erkannte zum erstenmal, daß er nicht mehr derselbe Mann war, als welcher er Jerusalem verlassen hatte. Denn jener Ritt mit der Lichtflamme hatte ihn gelehrt, sich an all denen zu freuen, die friedfertig, klug und barmherzig waren, und die Wilden und Streitsüchtigen zu verabscheuen.

      Er ward frohen Mutes, so oft er an Menschen dachte, die friedlich in ihrem Heim schafften, und plötzlich überkam ihn das Verlangen, wieder in seine einstige Werkstatt einzuziehn, um dort schöne, kunstvolle Arbeiten zu vollenden.

      »Wahrhaftig! Diese Flamme hat mich gänzlich verwandelt,« sagte er sich. »Ich glaube, sie hat mich zu einem anderen Menschen gemacht.«

      5

       Inhaltsverzeichnis

      Zur Osterzeit ritt Raniero in Florenz ein. Rücklings auf dem Pferde sitzend, die Kapuze tief über das Gesicht herabgezogen und die brennende Kerze in der Hand haltend, war er kaum durch das Stadttor geritten, als auch schon ein Bettler aufsprang und das gewohnte: »Pazzo, pazzo!« rief.

      Auf diesen Ruf stürzte sogleich ein Straßenjunge aus einem Torweg herbei, und ein Tagedieb, der schon lange nichts anderes zu tun gehabt hatte, als am Boden zu liegen und in den Himmel zu starren, sprang auf und rief mit den anderen beiden:

       »Pazzo, pazzo!«

      Da nun ihrer drei schrien, genügte der Lärm, um sämtliche Straßenjungen auf die Beine zu bringen. Diese kamen denn auch aus allen Ecken und Winkeln herbeigerannt, und sobald sie Raniero in seinem zerschlissenen Pilgermantel auf seiner erbärmlichen Mähre erblickten, riefen sie: »Pazzo, pazzo!«

      Doch an diesen Ruf war Raniero nun schon lange gewöhnt. Er ritt ruhig durch die Straßen, ohne der Rufenden sonderlich zu achten.

      Sie aber begnügten sich nicht damit, zu rufen, sondern einer von ihnen sprang empor und wollte die Kerze ausblasen.

      Raniero erhob die Hand mit der Kerze und suchte gleichzeitig sein Pferd anzutreiben, um der Bande zu entkommen.

      Sie aber hielten gleichen Schritt mit ihm und taten, was sie nur vermochten, um die Kerze auszulöschen.

      Je mehr Raniero sich bemühte, die Flamme zu schützen, desto hitziger wurden sie. Sie sprangen einander auf den Rücken, pusteten ihre Backen auf und bliesen mit aller Kraft. Sie warfen ihre Mützen nach der Kerze. Einzig und allein weil ihrer so viele waren, die sich gegenseitig hin und her drängten, gelang es ihnen nicht, die Lichtflamme zu verlöschen.

      Ein tolles Treiben herrschte auf der ganzen Straße. In den Fenstern lagen lachende Menschen als Zuschauer. Niemand empfand Mitleid für den Wahnsinnigen, der seine Lichtflamme schützen wollte. Es war Kirchzeit, und viele Kirchenbesucher begaben sich zur Messe. Auch diese blieben stehen