Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)
wollte er vorwärts gehen, um zu holen, was er brauchte. Aber die Schafe lagen Rücken an Rücken so dicht gedrängt, daß er nicht vorwärts kam. Und der Mann schritt über die Rücken der Tiere zum Feuer hin. Aber keines erwachte oder bewegte sich.«
Bis dahin hatte Großmutter ungestört erzählen können, länger jedoch vermochte ich nicht an mich zu halten, ohne sie zu unterbrechen. »Weshalb taten sie es nicht, Großmutter?« fragte ich. »Das wirst Du bald erfahren,« sagte Großmutter und erzählte weiter.
»Als der Mann schon beim Feuer angelangt war, blickte der Hirt auf. Er war ein alter, heftiger Mann, unfreundlich und hart gegen alle Menschen. Als er nun einen Fremden nahen sah, griff er nach einem langen, spitzen Stabe, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde weiden ließ, und schleuderte ihn nach dem Manne. Der Stab flog sausend gerade auf ihn zu, aber ehe er ihn treffen konnte, wich er zur Seite und flog an ihm vorbei ins Feld hinaus.«
Als Großmutter so weit gekommen war, unterbrach ich sie nochmals. »Großmutter, warum wollte der Stecken den Mann nicht treffen?« Aber Großmutter kümmerte sich um meine Frage gar nicht, sondern fuhr in ihrer Erzählung fort.
»Nun kam der Mann auf den Hirten zu und sprach zu ihm: ›Lieber, hilf mir und laß mich etwas von Deiner Feuersglut nehmen! Mein Weib ist eben eines Kindleins genesen, und ich muß Feuer anzünden, um sie und das Kindlein zu erwärmen.‹
Der Hirt hätte es ihm am liebsten abgeschlagen, aber er dachte daran, daß seine Hunde diesem Manne keinen Schaden hatten zufügen können, daß die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren, und daß sein Stab ihn nicht hatte hinstrecken wollen. Da wurde ihm etwas bänglich zumute, und er wagte nicht, ihm die Bitte abzuschlagen. ›Nimm so viel Du brauchst!‹ sagte er zu dem Manne.
Das Feuer war jedoch fast gänzlich niedergebrannt. Weder Holzscheite noch Zweige waren vorhanden, nur ein großer Gluthaufen lag da, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, um darin die rotglühenden Kohlen heimzutragen.
Als der Hirt dies sah, sprach er abermals: ›Nimm so viel Du brauchst!‹ Und er freute sich, daß der Mann nicht imstande sein würde, die Glut mitzunehmen.
Aber der Mann beugte sich nieder, las mit bloßen Händen die glühenden Kohlen aus der Asche und wickelte sie in seinen Mantel. Und die Kohlen versengten ihm weder Hände noch Mantel, und der Mann trug sie davon, als wären es Aepfel und Nüsse.«
Aber hier unterbrach ich die Märchenerzählerin zum drittenmal. »Großmutter, warum wollten die Kohlen den Mann nicht verbrennen?«
»Das wirst Du noch erfahren,« sagte Großmutter und erzählte weiter.
»Als jener Hirt, der ein so böser und heftiger Mensch war, all dies sah, fragte er sich selber verwundert: ›Was kann das für eine Nacht sein, da die Hunde nicht beißen, die Schafe sich nicht fürchten, der Speer nicht tötet und das Feuer nicht versengt?‹ Er rief den Fremden zurück und sprach zu ihm: ›Was ist das für eine Nacht? Und wie kommt es, daß alle Dinge Dir Barmherzigkeit zeigen?‹
Da sprach der Mann: ›Das kann ich Dir nicht sagen, wenn Du es nicht selber erkennst.‹ Und wollte seines Weges gehen, um bald ein Feuer anzuzünden und sein Weib und Kind erwärmen zu können.
Der Hirt aber dachte, er wolle den Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren, ehe er erführe, was all dies zu bedeuten habe. Er stand auf und ging ihm nach, bis er dorthin kam, wo der Fremde hauste.
Da sah der Hirt, daß der Mann nicht einmal eine Hütte besaß, um darin zu wohnen, sondern sein Weib und Kind lagen in einer Felsenhöhle, die nur nackte, kalte Steinwände hatte. Und der Hirt dachte, daß das arme unschuldige Kind vielleicht in dieser Höhle erfrieren und sterben würde, und obwohl er ein hartherziger Mann war, rührte ihn dieses Elend, und er sann nach, wie er dem Kinde helfen könnte. Er löste seinen Ranzen von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell, gab es dem fremden Manne und sagte, er solle das Kindlein darauf betten.
Aber sobald er gezeigt hatte, daß auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er zuvor nicht wahrgenommen hatte, und hörte, was zuvor seinen Ohren verschlossen war:
Er sah, daß er inmitten einer dichten Schar kleiner, silberbeschwingter Engel stand, die einen Kreis um ihn bildeten. Und jedes Englein hielt ein Saitenspiel, und alle sangen mit jubelnder Stimme, daß in dieser Nacht der Heiland geboren sei, der die ganze Welt von ihren Sünden erlösen würde.
Da verstand er, weshalb sogar alle leblosen Dinge in dieser Nacht so froh waren, daß sie niemandem etwas zuleide tun mochten.
Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, überall gewahrte er sie. Sie saßen in der Felsenhöhle, und sie saßen draußen auf den Bergen, auch unter dem Himmel flogen sie hin und her. Sie kamen in großen Scharen auf den Wegen dahergewandelt, und wenn sie vorbeischritten, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kindlein in der Höhle.
Jubel und Freude, Sang und Spiel waren allüberall, und der Hirt sah es in der dunkeln Nacht, in der er sonst nichts hatte wahrnehmen können. Voll Freude, daß seine Augen geöffnet waren, sank er auf die Knie und lobete Gott.«
Und als Großmutter so weit gekommen war, seufzte sie und sprach: »Aber was der Hirt sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel einher, wenn wir sie nur zu erkennen vermögen.«
Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Scheitel und sprach: »Dessen sollst Du eingedenk sein, denn es ist so wahr, wie ich Dich sehe und Du mich siehst. Nicht auf Kerzen und Lampen kommt es an, noch auf Sonne und Mond, sondern was nottut, ist einzig und allein, daß wir die rechten Augen haben, Gottes Herrlichkeit zu sehen.«
Des Kaisers Vision
Es war zu jener Zeit, da Augustus Kaiser in Rom Herodes König in Jerusalem war.
Da geschah es, daß eine sehr bedeutsame und heilige Nacht auf die Erde sich breitete. Es war die schwärzeste Nacht, die man je gesehen hatte, man hätte glauben können, die ganze Erde sei in ein riesiges Kellergewölbe versunken. Unmöglich war es, Wasser von Land zu unterscheiden, und auf den bekanntesten Wegen konnte man sich nicht zurechtfinden. Es konnte auch gar nicht anders sein, denn kein Lichtstrahl drang vom Himmel herab. Alle Sterne waren daheim in ihren Häusern geblieben, und der freundliche Mond hatte sein Antlitz von der Erde abgewandt.
Und ebenso tief wie die Finsternis war die Stille. Die Flüsse hatten ihren Lauf gehemmt, kein Windhauch regte sich, und sogar das Espenlaub hatte aufgehört zu zittern. Wäre man zum Meere hinabgegangen, so hätte man entdeckt, daß die Wellen nicht mehr den Strand umspülten, und wäre man in die Wüste gegangen, so hätte der Sand nicht unter den Füßen geknirscht. Alles war wie versteinert und regungslos, um diese heilige Nacht nicht zu stören. Das Gras wagte nicht zu wachsen, der Tau konnte nicht fallen, und die Blumen getrauten sich nicht, Düfte auszuhauchen.
In dieser Nacht jagten die Raubtiere nicht nach Beute, die Schlangen bissen nicht, die Hunde bellten nicht. Und was noch weit herrlicher war, keines der leblosen Dinge hätte die Heiligkeit der Nacht dadurch entweihen mögen, daß es sich zu einer Uebeltat hergab. Kein Dietrich hätte ein Schloß öffnen können, und kein Messer wäre imstande gewesen, Blut zu vergießen.
In dieser Nacht nun schritt eine kleine Zahl von Menschen aus dem kaiserlichen Palast auf dem Palatin und schlug die Richtung über das Forum nach dem Kapitol ein. Die Ratsherren der Stadt hatten am jüngst verflossenen Tage den Kaiser befragt, ob er Einspruch erheben würde, wenn sie auf Roms geheiligtem Berge einen Tempel für ihn erbauen ließen. Augustus jedoch hatte seine Zustimmung nicht sogleich erteilt. Er wußte nicht, ob es den Göttern wohlgefällig sein würde, daß er einen Tempel neben ihren Altären besäße, und er hatte geantwortet, daß er zuvor seinem Schutzgeist ein nächtliches Opfer darbringen wolle, um den Willen der Götter zu erforschen. Und er war es, der nun, von einigen Getreuen geleitet, sich anschickte, dieses Opfer darzubringen.
Augustus