Walter Benjamin

Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)


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aus. Die Kapuze war herabgeglitten, und man sah sein Antlitz, das abgezehrt und bleich wie das eines Märtyrers war. Die Kerze hatte er emporgehoben, so hoch er es vermochte.

      Die ganze Straße war ein einziges wüstes Gewimmel. Auch die älteren Leute begannen an dem Spiel teilzunehmen. Die Weiber wehten mit ihren Kopftüchern, und die Männer schwangen ihre Baretts. Alle bemühten sich, die Kerze auszulöschen.

      Raniero ritt an einem Hause vorüber, das einen Balkon aufwies. Dort stand eine Frau. Sie neigte sich über das Geländer, entriß ihm die Kerze und eilte damit in ihre Zimmer.

      Die ganze Menschenmenge brach in schallendes Gelächter und in Jubelrufe aus, Raniero aber wankte im Sattel und stürzte zu Boden.

      Als er nun zerschlagen und ohnmächtig dalag, zog sich die ganze Volksmenge sogleich zurück.

      Niemand wollte sich des Ohnmächtigen annehmen. Nur sein Pferd blieb neben ihm stehen.

      Sobald die Straße menschenleer war, trat Francesca degli Uberti, mit einer brennenden Kerze in der Hand, aus ihrem Hause. Sie war noch immer schön, ihre Züge hatten einen sanften Ausdruck, und ihre Augen waren ernst und tief.

      Sie trat auf Raniero zu und neigte sich über ihn. Er lag bewußtlos da, aber sobald der Lichtschein sein Gesicht traf, bewegte er sich und fuhr empor. Es war, als stehe er gänzlich im Bann dieser Lichtflamme. Da Francesca sah, daß er wieder bei Bewußtsein war, sprach sie: »Hier hast Du Deine Kerze. Ich habe sie Dir entrissen, weil ich erkannte, wie sehr Dir daran lag, sie brennend zu erhalten. Ich wußte nicht, wie ich Dir auf andere Weise helfen sollte.«

      Raniero hatte sich bei dem Sturz vom Pferde übel zerschlagen und zerschunden. Doch nun konnte ihn nichts mehr zurückhalten. Er richtete sich langsam auf. Er wollte gehen, schwankte jedoch und wäre fast hingestürzt. Da versuchte er sein Pferd zu besteigen. Francesca half ihm dabei. »Wohin willst Du reiten?« fragte sie, als er wieder im Sattel saß. »Ich will zur Domkirche,« antwortete er. »Dann will ich Dich geleiten, denn ich will zur Messe gehen,« sprach sie, faßte den Zügel und führte das Pferd durch die Straßen.

      Francesca hatte Raniero sofort, wiedererkannt. Er aber sah nicht, wer sie war, denn er nahm sich nicht Zeit und Muße, sie zu betrachten. Er blickte nur unablässig auf die Lichtflamme hin.

      Auf dem ganzen Wege schwiegen sie. Raniero dachte nur an seine Lichtflamme und wie er sie wohl in diesen letzten Augenblicken sicher behüten könnte. Francesca aber konnte kein Wort hervorbringen, weil sie innerlich fühlte, daß sie keinen klaren Bescheid über das haben wollte, was sie fürchtete. Sie konnte nur annehmen, daß Raniero als Wahnsinniger heimgekehrt sei. Doch obwohl sie fast überzeugt davon war, mochte sie doch lieber nicht mit ihm reden, um nicht die volle Bestätigung dessen zu erlangen.

      Nach einer Weile hörte Raniero ein Schluchzen neben sich. Er blickte zur Seite und erkannte Francesca degli Uberti, die weinend neben ihm herschritt. Aber Raniero sah sie nur einen Augenblick an und sprach kein Wort zu ihr. Er wollte einzig und allein an die Lichtflamme denken.

      Er ließ sich zur Sakristei hinführen. Dort stieg er vom Pferde und dankte Francesca für ihre Hilfe, blickte sie aber noch immer nicht an, sondern schaute nur auf die Lichtflamme hin. Dann betrat er ganz allein die Sakristei und suchte die Priester auf.

      Francesca ging in die Kirche. Es war am Karfreitag der Osterwoche, und zum Zeichen der Trauer standen noch alle Kerzen unangezündet auf den Altären. Francesca fühlte, daß jede Flamme der Hoffnung, die in ihr gebrannt hatte, nun auch erloschen sei.

      In der Kirche herrschte eine sehr feierliche Stimmung. Viele Priester standen vor den Altären. Im Chore saßen zahlreiche Domherren, an ihrer Spitze der Bischof.

      Nach einer Weile merkte Francesco, daß eine gewisse Erregung unter den Priestern entstand. Fast alle, die nicht bei der Messe beteiligt waren, erhoben sich und schritten in die Sakristei. Schließlich folgte ihnen der Bischof.

      Als die Messe zu Ende war, betrat einer der Priester den Chor und redete zur Gemeinde. Er berichtete, daß Raniero di Ranieri aus Jerusalem heiliges Feuer nach Florenz gebracht hätte. Er erzählte, was der Ritter unterwegs erduldet und gelitten hatte. Und er pries ihn über alle Maßen.

      Staunend lauschte die ganze Gemeinde seinen Worten. Francesca hatte niemals eine so glückselige Stunde erlebt. »O Gott, dies ist mehr Glück, als ich zu ertragen vermag,« flüsterte sie mit einem Seufzer.

      Der Priester sprach lange und begeistert. Zuletzt rief er mit mächtiger Stimme: »Nun könnte es Euch zwar als etwas Geringfügiges erscheinen, daß eine Lichtflamme hier nach Florenz gebracht worden ist. Aber ich sage Euch: Betet zu Gott, daß er Florenz viele Träger des ewigen Feuers schenken möge, dann wird unsere Stadt zu großer Macht gelangen und die gebenedeiteste unter allen Städten werden!«

      Als der Priester seine Rede beendet hatte, wurden die Hauptportale der Domkirche weit geöffnet, und eine Prozession, so gut sie in der Eile geordnet werden konnte, hielt ihren Einzug. Domherren, Mönche und Priester schritten durch den Mittelgang auf den Hauptaltar zu. Ganz zuletzt kam der Bischof, und an seiner Seite befand sich Raniero in demselben Mantel, den er auf der ganzen Pilgerfahrt getragen hatte.

      Als Raniero jedoch über die Kirchenschwelle trat, erhob sich ein Greis und schritt ihm entgegen. Es war Oddo, der Vater jenes armen Gesellen aus Ranieros Werkstatt, der sich um seinetwillen erhängt hatte.

      Als dieser Mann vor dem Bischof und vor Raniero stand, neigte er sich vor ihnen beiden und sprach mit so erhobener Stimme, daß alle in der Kirche es vernehmen konnten: »Es ist ein herrlich Ding für Florenz, daß Raniero mit heiligem Feuer von Jerusalem gekommen ist. Dergleichen ist niemals zuvor berichtet oder vernommen worden. Vielleicht könnten deshalb auch manche aufstehen und sagen, daß es nicht möglich sei. Darum bitte ich, der ganzen Gemeinde kundzutun, welche Beweise und Zeugen Raniero mitgebracht hat, die es glaubhaft machen können, daß dieses Feuer in Wahrheit zu Jerusalem entzündet worden ist.«

      Da Raniero diese Worte vernahm, sprach er: »Nun helfe mir Gott! Wie könnte ich wohl Zeugen beibringen? Ich habe die Pilgerfahrt allein unternommen. Da müßten Wüsten und Einöden kommen, um für mich Zeugnis abzulegen.«

      »Raniero ist ein ehrenfester Ritter,« sprach der Bischof, »und wir glauben ihm auf sein Wort.«

      »Raniero konnte wohl selber vermuten, daß hierüber Zweifel entstehen würden,« entgegnete Oddo. »Er wird daher auch nicht ganz allein geritten sein. Da werden ja seine jungen Knappen für ihn zeugen können.«

      Da eilte Francesca degli Uberti aus der Volksmenge auf ihn zu und rief: »Wozu bedürfen wir der Zeugen? Alle Frauen von Florenz wollen einen Eid ablegen, daß Raniero die Wahrheit spricht.«

      Raniero lächelte und sein Antlitz strahlte für einen Augenblick. Aber dann wandte er seine Blicke und seine Gedanken wieder der Lichtflamme zu.

      Es entstand nun ein großer Tumult in der Kirche. Einige sagten, Raniero dürfe die Kerzen auf dem Altar nicht entzünden, ehe seine Sache erwiesen sei. Zu diesen Widersachern gesellten sich viele seiner ehemaligen Feinde.

      Da erhob sich Jacopo degli Uberti und sprach zugunsten Ranieros:

      »Ich denke, hier wissen wohl alle, daß nicht allzu große Freundschaft zwischen mir und meinem Eidam geherrscht hat, jetzt aber wollen wir – sowohl ich als auch meine Söhne – uns für ihn verbürgen. Wir glauben ihm, daß er diese Großtat vollbracht hat, und wir begreifen, daß jemand, der es vermocht hat, ein solches Vorhaben bis zum Ende durchzuführen, ein kluger, bedächtiger und edelgesinnter Mann sein muß. Wir werden ihn demnach mit Freuden in unserer Mitte aufnehmen.«

      Aber Oddo und viele andere waren nicht gesonnen, Raniero das heißerstrebte Glück zu vergönnen. Sie sammelten sich zu einem dichten Haufen, und es war leicht zu erkennen, daß sie ihre Forderung nicht aufgeben würden.

      Raniero begriff, daß sie, falls nun ein Kampf entstände, vor allem seine Lichtflamme gefährden würden. Während er die Augen beständig auf seine Widersacher geheftet hielt, hob er die Kerze so hoch empor, wie er es nur vermochte.

      Er sah todesmatt und verzweifelt aus. Man merkte ihm