Walter Benjamin

Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)


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Mein Schloß«, sagte der arme Verwandte, die Augen noch immer auf das Feuer gerichtet, mit einem Kopfschütteln, »ist in der Luft. John, unser verehrter Gastgeber, hat seine Lage genau erraten. Mein Schloß ist in der Luft! Ich bin zu Ende. Will jemand so freundlich sein und weitererzählen?«

      Eine Erzählung für Kinder

      (Leo Tolstoi)

       Inhaltsverzeichnis

      Ein Mädchen und ein Knabe fuhren in einer Kalesche von einem Dorf in das andere. Das Mädchen war fünf und der Knabe sechs Jahre alt. Sie waren nicht Geschwister, sondern Vetter und Base. Ihre Mütter waren Schwestern. Die Mütter waren zu Gast geblieben und hatten die Kinder mit der Kinderfrau nach Hause geschickt.

      Als sie durch ein Dorf kamen, brach ein Rad am Wagen, und der Kutscher sagte, sie könnten nicht weiterfahren. Das Rad müsse ausgebessert werden, und er werde es gleich besorgen.

      “Das trifft sich gut”, sagte die Niania, die Kinderfrau. “Wir sind so lange gefahren, daß die Kinderchen hungrig geworden sind.

      Ich werde ihnen Brot und Milch geben, die man uns zum Glück mitgegeben hat.”

      Es war im Herbst, und das Wetter war kalt und regnerisch. Die Kinderfrau trat mit den Kindern in die erste Bauernhütte, an der sie vorüberkamen.

      Die Stube war schwarz, der Ofen ohne Rauchfang. Wenn diese Hütten im Winter geheizt werden, wird die Tür geöffnet, und der Rauch zieht so lange aus der Tür, bis der Ofen heiß ist.

      Die Hütte war schmutzig und alt, mit breiten Spalten im Fußboden. In einer Ecke hing ein Heiligenbild, ein Tisch mit Bänken stand davor. Ihm gegenüber befand sich ein großer Ofen.

      Die Kinder sahen in der Stube zwei gleichaltrige Kinder; ein barfüßiges Mädchen, das nur mit einem schmutzigen Hemdchen bekleidet war, und einen dicken, fast nackten Knaben. Noch ein drittes Kind, ein einjähriges Mädchen, lag auf der Ofenbank und weinte ganz herzzerreißend. Die Mutter suchte es zu beruhigen, wandte sich aber von ihm ab, als die Kinderfrau eine Tasche mit blinkendem Schloss aus dem Wagen ins Zimmer brachte. Die Bauernkinder staunten das glänzende Schloss an und zeigten es einander.

      Die Kinderfrau nahm eine Flasche mit warmer Milch und Brot aus der Reisetasche, breitete ein sauberes Tuch auf dem Tisch aus und sagt: “So, Kinderchen, kommt, ihr seid doch wohl hungrig geworden?” Aber die Kinder folgten ihrem Ruf nicht. Sonja, das Mädchen, starrte die halbnackten Bauernkinder an und konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Sie hatte noch nie so schmutzige Hemdchen und so nackte Kinder gesehen und staunte sie nur so an. Petja aber, der Knabe, sah bald seine Base, bald die Bauernkinder an und wußte nicht, ob er lachen oder sich wundern sollte. Mit besonderer Aufmerksamkeit musterte Sonja das kleine Mädchen auf der Ofenbank, das noch immer laut schrie.

      “Warum schreit sie denn so?” fragte Sonja.

      “Sie hat Hunger”, sagte die Mutter.

      “So geben Sie ihr doch etwas.”

      “Gern, aber ich habe nichts.”

      “So, jetzt kommt”, sagte die Niania, die inzwischen das Brot geschnitten und zurechtgelegt hatte.

      Die Kinder folgten dem Ruf und traten an den Tisch. Die Kinderfrau goß ihnen Milch in kleine Gläschen ein und gab jedem ein Stück Brot. Sonja aber aß nicht und schob das Glas von sich fort. Und Petja sah sie an und tat das gleiche. “Ist es denn wahr?” fragte Sonja, auf die Bauersfrau zeigend.

      “Was denn?” fragte die Niania.

      “Daß sie keine Milch hat?”

      “Wer soll das wissen? Euch geht es nichts an.”

      “Ich will nicht essen”, sagte Sonja.

      “Ich will auch nicht essen”, sprach Petja.

      “Gib ihr die Milch”, sagte Sonja, ohne den Blick von dem kleinen Mädchen abzuwenden.

      “Schwatze doch keinen Unsinn”, sagte die Niania. “Trinkt, sonst wird die Milch kalt.”

      “Ich will nicht essen, ich will nicht!” rief Sonja plötzlich. “Und auch zu Hause werde ich nicht essen, wenn du ihr nichts gibst.”

      “Trinkt ihr zuerst, und wenn etwas übrig bleibt, so gebe ich ihr.”

      “Nein, ich will nichts haben, bevor du ihr nicht etwas gegeben hast. Ich trinke auf keinen Fall.”

      “Ich trinke auch nicht”, wiederholte Petja.

      “Ihr seid dumm und redet dummes Zeug”, sagte die Kinderfrau. “Man kann doch nicht alle Menschen gleichmachen! Das hängt eben von Gott ab, der dem einen mehr gibt als dem andern. Euch, Eurem Vater hat Gott viel gegeben.”

      “Warum hat er ihnen nichts gegeben?”

      “Das geht uns nichts an - wie Gott will”, sagte die Niania.

      Sie goß ein wenig Milch in eine Tasse und gab diese der Bauersfrau. Das Kind trank und beruhigte sich.

      Die beiden anderen Kinder aber beruhigten sich noch immer nicht, und Sonja wollte um keinen Preis etwas essen oder trinken. “Wie Gott will…”, wiederholte sie. “Aber warum will er es so? Er ist ein böser Gott, ein häßlicher Gott, ich werde nie wieder zu ihm beten.”

      “Pfui, wie abscheulich!” sagte die Niania. “Warte, ich sage es deinem Papa.”

      “Du kannst es ruhig sagen, ich habe es mir ganz bestimmt vorgenommen. Es darf nicht sein, es darf nicht sein.”

      “Was darf nicht sein?” fragte die Niania.

      “Daß die einen viel haben und die andren gar nichts.”

      “Vielleicht hat Gott es absichtlich so gemacht”, sagte Petja.

      “Nein, er ist schlecht, schlecht. Ich will weder essen noch trinken. Er ist ein schlimmer Gott! Ich liebe ihn nicht.” Plötzlich ertönte vom Ofen herab eine heisere, vom Husten unterbrochene Stimme. “Kinderchen, Kinderchen, ihr seid liebe Kinderchen, aber ihr redet Unsinn.”

      Ein neuer Hustenanfall unterbrach die Worte des Sprechenden. Die Kinder starten erschrocken zum Ofen hinauf und erblickten dort ein runzliges Gesicht und einen grauen Kopf, der sich vom Ofen herabneigte.

      “Gott ist nicht böse. Kinderchen, Gott ist gut. Er hat alle Menschen lieb. Es ist nicht sein Wille, daß die einen Weißbrot essen, während die anderen nicht einmal Schwarzbrot haben. Nein, die Menschen haben es so eingerichtet. Und sie haben es darum getan, weil sie ihn vergessen haben.”

      Der Alte bekam wieder einen Hustenanfall.

      “Sie haben ihn vergessen und es so eingerichtet, daß die einen im Überfluß leben und die anderen in Not und Elend vergehen. Würden die Menschen nach Gottes Willen leben, dann hätten alle, was sie nötig haben.”

      “Was soll man aber tun, damit alle Menschen alles Nötige haben?” fragte Sonja.

      “Was man tun soll?” wisperte der Alte.

      “Man soll Gottes Wort befolgen. Gott befiehlt, man soll alles in zwei Teile teilen.”

      “Wie, wie?” fragte Petja.

      “Gott befiehlt, man soll alles in zwei Teile teilen.”

      “Er befiehlt, man soll alles in zwei Teile teilen”, wiederholte Petja.

      “Wenn ich einmal groß bin, werde ich das tun.”

      “Ich tue es auch”, versicherte Sonja.

      “Ich habe es eher gesagt als du!” rief Petja. “Ich werde es so machen, daß es keine Armen mehr gibt.”

      “Na, nun habt ihr genug Unsinn geschwatzt”, sagte die Niania. “Trinkt die Milch aus.”

      “Wir wollen