Die beliebtesten Geschichten, Sagen & Märchen zur Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe)
den weihnachtlichen Kamin versammelt, sich erzählen wollten. Er wandte bescheiden ein, daß es richtiger wäre, wenn »John, unser verehrter Gastgeber« (auf dessen Gesundheit er sich zu trinken gestatte), freundlicherweise den Anfang machen würde. Denn was ihn selbst beträfe, meinte er, wäre er so wenig daran gewöhnt, der erste zu sein, daß wirklich ... Aber da hier alle riefen, daß er beginnen müsse, und alle einstimmig dafür waren, daß er beginnen könne, dürfe und solle, hörte er schließlich auf, sich die Hände zu reiben, zog seine Beine unter dem Lehnsessel hervor und begann.
Ich hege keinen Zweifel (sagte der arme Verwandte), daß ich die versammelten Mitglieder unserer Familie durch das Geständnis, das ich abzulegen im Begriff bin, überraschen werde; besonders aber John, unseren verehrten Gastgeber, dem wir für die freigebige Bewirtung des heutigen Tages so viel Dank schuldig sind. Falls ihr mir aber nun die Ehre erweist, von etwas überrascht zu sein, was eine Person von so geringer Bedeutung in der Familie wie ich vorbringt, so will ich nur feststellen, daß ich bei allem, was ich berichte, mit der größten Gewissenhaftigkeit verfahren werde.
Ich bin nicht der, wofür ich gehalten werde. Ich bin ein ganz anderer. Vielleicht wäre es gut, bevor ich fortfahre, einen Blick auf das zu werfen, wofür ich gehalten werde.
Man ist der Ansicht, daß ich niemandes Feind bin als mein eigener. Sollte ich mich darin täuschen, was sehr wahrscheinlich ist, so werden mich die versammelten Mitglieder unserer Familie zurechtweisen. (Hier sah sich der arme Verwandte mit mildem Blick im Kreise um, ob ihm jemand widerspräche.) Man glaubt, daß ich niemals bei irgend etwas besonderen Erfolg hatte. Daß ich im Geschäftlichen versagte, weil ich unkaufmännisch und leichtgläubig war – weil ich den selbstsüchtigen Schlichen meines Partners nicht gewachsen war. Daß ich in der Liebe Unglück hatte, weil ich lächerlich vertrauensselig war – weil ich es für unmöglich hielt, daß Christiana mich hintergehen könnte. Daß ich in meinen Erwartungen von meinem Onkel Chill enttäuscht wurde, weil ich in weltlichen Angelegenheiten nicht so scharf war, wie er es gewünscht hätte. Daß ich das ganze Leben hindurch überhaupt stets betrogen und enttäuscht worden bin. Daß ich jetzt ein Junggeselle zwischen neunundfünfzig und sechzig bin, der ein beschränktes Einkommen in Form einer vierteljährlichen Rente besitzt, über die, wie ich bemerke, John, unser verehrter Gastgeber, keine weitere Anspielung von mir hören möchte.
Das Leben, das ich jetzt führe, stellt sich nach der allgemeinen Annahme etwa folgendermaßen dar:
Ich bewohne in der Clapham Road ein sehr reinliches Hinterzimmer in einem sehr anständigen Haus. Man erwartet von mir, daß ich am Tag nicht zu Hause bin, ausgenommen in Krankheitsfällen, und ich gehe gewöhnlich um neun Uhr morgens fort, unter dem Vorwand, mich ins Geschäft zu begeben. Ich frühstücke – eine Buttersemmel und eine halbe Pinte Kaffee – in dem alten Kaffeehaus in der Nähe der Westminster–Brücke, und dann gehe ich, ohne recht zu wissen wozu, in die City und sitze in Garraways Kaffeehaus und auf der Börse und gehe umher und spreche in ein paar Kontoren vor, wo einige meiner Verwandten oder Bekannten so freundlich sind, mich zu dulden, und wo ich am Kamin stehe, wenn das Wetter gerade kalt ist. In dieser Weise bringe ich den Tag hinter mich, bis es fünf Uhr ist, und dann diniere ich: im Durchschnitt etwa für einen Schilling und drei Pence. Da ich noch ein wenig Geld für meine Abendunterhaltung übrig habe, gucke ich auf dem Heimweg in das alte Kaffeehaus hinein und nehme meine Tasse Tee und vielleicht meine Röstschnitte. So gehe ich denn, so regelmäßig wie der große Uhrzeiger seinen Weg nach der Morgenstunde zurücklegt, wieder nach der Clapham Road zurück und lege mich, zu Hause angekommen, sofort zu Bett. Denn Heizen ist kostspielig, und die Familie, bei der ich wohne, will wegen der Mühe und des Schmutzes, die damit verbunden sind, nichts davon wissen.
Manchmal ist einer meiner Verwandten oder Bekannten so liebenswürdig, mich zum Diner einzuladen. Das sind Feiertage für mich, und ich pflege in der Regel anschließend einen Spaziergang im Park zu unternehmen. Ich bin ein einsamer Mensch und gehe selten in jemands Gesellschaft. Nicht etwa, daß man mich meidet, weil ich schäbig aussehe; denn ich sehe gar nicht schäbig aus, da ich immer einen sehr guten schwarzen Anzug anhabe. Aber ich habe die Gewohnheit angenommen, leise zu sprechen und mich ziemlich schweigsam zu verhalten; meine Laune ist nicht rosig, und so verstehe ich vollkommen, daß ich keinem ein sehr wünschenswerter Gesellschafter bin.
Die einzige Ausnahme von dieser Regel ist das Kind meines Vetters, der kleine Frank. Ich habe eine besondere Zuneigung zu diesem Knaben, und er hängt sehr an mir. Er ist von Natur ein mißtrauischer Junge, und in einer Menschenmenge ist er bald überrannt, wie ich mich ausdrücken darf, und vergessen. Doch vertragen wir beide uns ganz vorzüglich, und es kommt mir so vor, als ob der arme Junge eines Tages meine besondere Stellung in der Familie erben würde. Wir sprechen nur wenig miteinander, und doch verstehen wir uns. Wir gehen Hand in Hand spazieren, und ohne daß wir viel sprechen, weiß er, was ich meine, und weiß ich, was er meint. Als er noch ganz klein war, pflegte ich ihn an die Schaufenster der Spielzeugläden zu führen und ihm die ausgestellten Spielsachen zu zeigen. Dabei fand er überraschend schnell heraus, daß ich ihm eine Menge Geschenke gemacht hätte, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre.
Der kleine Frank und ich gehen zum Monument zum Andenken an die große Londoner Feuersbrunst von 1666 spazieren und sehen es uns von außen an – er liebt das Monument sehr –, und wir gehen zu den Brücken und zu allen Sehenswürdigkeiten, die keinen Eintritt kosten. Zweimal haben wir an meinem Geburtstag gespickten Rinderbraten diniert und sind dann zum halben Preis ins Theater gegangen, wo wir mit tiefstem Interesse zugehört haben. Einst ging ich mit ihm in der Lombard Street, die wir oft aufsuchen, weil ihm meine Erzählung, daß es dort große Reichtümer gibt, diese Straße sehr lieb gemacht hat, als ein Gentleman im Vorübergehen zu mir sagte: »Sir, Ihr kleiner Sohn hat seinen Handschuh fallen lassen.« Ich versichere euch, wenn ihr mein Verweilen bei einem so trivialen Umstand entschuldigen wollt, daß diese zufällige Erwähnung, dieses Kind sei mein eigenes, an mein Herz griff, und mir närrische Tränen in die Augen trieb.
Wenn der kleine Frank aufs Land in die Schule geschickt wird, werde ich in großer Verlegenheit sein, was ich mit mir anfangen soll. Aber ich habe die Absicht, einmal im Monat zu Fuß dorthin zu gehen und ihn an einem freien Nachmittag zu besuchen. Man sagt mir, er wird dann auf der Heide beim Spiel sein; und wenn meine Besuche unwillkommen sein sollten, weil sie den Knaben aufregen, so kann ich ihn aus der Ferne sehen, ohne daß er mich sieht, und dann wieder zurückwandern. Seine Mutter stammt aus einer hochvornehmen Familie, und ich weiß wohl, daß es ihr nicht besonders angenehm ist, wenn wir zuviel zusammen sind. Freilich bin ich wenig dazu geeignet, auf seinen schüchternen Charakter günstig einzuwirken; aber ich glaube, er würde mich über den Augenblick hinaus vermissen, wenn wir gänzlich getrennt würden.
Wenn ich in der Clapham Road sterbe, werde ich nicht viel mehr auf dieser Welt hinterlassen, als ich aus ihr hinwegnehmen werde. Aber ich besitze das Miniaturbild eines Knaben mit fröhlichem Gesicht und lockigem Haar, der am Hals einen offnen Hemdkragen trägt. Meine Mutter hat es für mich anfertigen lassen, aber ich kann nicht glauben, daß es jemals ähnlich war. Dieses wird beim Verkauf nichts einbringen, und ich werde darum bitten, daß es Frank gegeben wird. Ich habe meinem lieben Jungen einen kleinen Brief dazu geschrieben und ihm darin gesagt, daß es mir sehr leid täte, von ihm zu scheiden; aber andererseits wüßte ich auch keinen rechten Grund, warum ich hierbleiben sollte. Ich habe ihm in kurzen Worten den Rat gegeben – den besten, den ich ihm geben konnte –, sich ein warnendes Beispiel daran zu nehmen, welche Folgen es hätte, wenn man niemandes Feind wäre als sein eigener. Ich habe mich auch bemüht, ihn zu trösten wegen dessen, was er, wie ich fürchte, als einen Verlust ansehen wird. Ich habe ihm vorgehalten, daß ich für jeden außer ihm nur ein überflüssiger Mensch war; daß es mir irgendwie mißlungen sei, einen Platz in dieser großen Gesellschaft zu finden, und daß es deshalb besser sei, wenn ich sie verließe.
Dies (sagte der arme Verwandte, indem er sich räusperte und die Stimme ein wenig erhob) ist die allgemeine Ansicht über mich. Nun ist es aber ein bemerkenswerter Umstand – und das ist Zweck und Ziel meiner Geschichte –, daß das alles verkehrt ist. Das ist nicht mein Leben und das sind nicht meine Gewohnheiten. Ich wohne nicht einmal in der Clapham Road. Ich bin verhältnismäßig sehr selten dort. Ich wohne meistens in einem – ich schäme mich fast, das Wort auszusprechen, es klingt so anspruchsvoll – in einem Schloß. Ich will damit nicht sagen,