Ludwig Ganghofer

Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer


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fast schon die Nacht, und draußen in der Ferne noch der leuchtende Himmel. Und die kleinen und scheuen Lichter, die von draußen hereinschleichen durch die dichten Zweige. Sind sie nicht wie sehnsüchtige Träume? Wie die Wünsche eines Menschen, der das grelle Licht und den wirren, schmerzenden Lärm des Tages satt bekam und nach Frieden verlangt, nach Ruhe, nach stiller Schönheit? Und wie reichlich der Wald das alles gibt! Ich hab es erlebt an mir selbst! Dieses Schweigen im Walde, wenn draußen der Tag versinkt – wie das heilt! Wie das beruhigt! Wie schön das ist! Man hört keinen Laut. Dennoch fühlt man, als hätte dieses Schweigen hundert Stimmen. Jede redet zu uns und sagt uns ein neues Wort. Wie muß der Künstler allen Zauber der Waldstille empfunden haben, um ihn so überzeugend zu verkörpern: in der ernsten Schönheit dieser Waldfee, die auf dem Einhorn reitet! Hat dieses Tier nicht etwas Urweltliches an sich? Geradeso wie der Wald, wie alles Werden und Wandern in der Natur? Und sehen Sie nur: wie dieses Horchen auf das Ewige, dieses träumende Märchenlauschen aus den schönen Augen der Waldfrau redet!«

      »Das? Eine Waldfrau? Eine Verkörperung aller Schönheit des von Ruhe erfüllten Waldes? Meinen Sie?« fragte Lo beklommen. »Ich habe das Gefühl, daß Sie in dieses Bild etwas hineinlegen, was aus Ihnen kommt. Das ist milder und freundlicher als der Gedanke dieser Gestalt. Der ist viel strenger. Ich meine, daß sich der Künstler dachte: das ist die Natur, die Natur selbst! Jetzt ruht sie, hat die Hände im Schoß und betrachtet, was sie in hundert Jahren, die bei ihr eine Minute heißen, geschaffen hat. In solcher Ruhe ist ihr Auge schön, träumerisch und sinnend. Aber –«

      »Ein Aber?« fiel ihr Ettingen mit lächelndem Schreck ins Wort. »Fräulein Lo, ich warne Sie! Über diese Augen dürfen Sie mir nichts Böses sagen! Ich habe dieses Bild immer bewundert. Um dieser Augen willen hab ich es liebgewonnen. Den Blick solcher Augen hab ich gesehen, in Wirklichkeit! Den hab ich erlebt. Ich selbst! An diese Augen glaub ich. Aber sprechen Sie, ich bitte, was wollten Sie sagen?«

      Sie war befangen und vermochte nicht gleich zu sprechen. »Diese Augen sind schön, jetzt in der Ruhe, in dem Wohlgefallen, das die Natur an ihrer eigenen Schöpfung empfinden muß! Aber sehen Sie den Körper dieses Weibes an! Dieses Übermenschliche an ihm! Die ruhende Kraft! Um den herrischen Mund liegt etwas Gewalttätiges und unerbittlich Grausames. Und das mußte der Künstler so zeigen, denn die Natur ist grausam, wenigstens im Sinne von uns Menschen, die wir den Schmerz so schwer ertragen. An der Natur ist die Unerbittlichkeit eine Eigenschaft wie die Schönheit, wie die Kraft, wie jede andere. Die Natur muß grausam sein, wenn sie das Verbrauchte beseitigen und das Neue schaffen, wenn sie bestehen und nicht altern will. So schön die Natur in der Ruhe sein kann, es redet doch immer etwas aus ihrem Gesicht wie eine unheimliche Drohung. So wirkt auch dieses Bild auf mich. Es weckt ein Gefühl in mir wie Angst, die das Bangen vor einer Gefahr, die mir nah ist, und an die ich doch nicht glauben kann, weil ich soviel Schönheit sehe.«

      Sinnend betrachtete Ettingen das Bild. »Sie haben recht. Jetzt, da Sie es gesagt haben, fühl ich es auch. Dieser harte, herb geschlossene Mund scheint sagen zu wollen: sieh, wieviel Schönheit dich umgibt in der Ruhe des Waldes, aber dieses stille Träumen wird nicht mehr lange dauern, der Wald hat seinen Zweck erfüllt und ließ den Samen fallen, aus dem das Neue wächst – komme morgen wieder, und was du heute noch siehst, wird alles verschwunden sein, gefallen in Sturm, versunken in Asche! Sehen Sie nur, dieser Baum! Der hat schon eine Wunde wie von einem schweren Steinschlag. Wie er blutet! Der Baum muß sterben. Und das Eichhörnchen, das über den Stamm hinaufklettert, wie in Schreck und Angst? Ich habe nie recht begriffen, was der Künstler mit diesem Tierchen wollte. Jetzt versteh ich es. Das kleine Ding empfindet die Gefahr, die aus dem schweigenden Gesicht der Natur zu ihm redet, und weiß in seiner dunklen Sorge nicht, wohin es sein winziges Leben flüchten soll. Armes Geschöpf!« Er schwieg eine Weile. Dann sagte er plötzlich: »Da Sie den Gedanken dieses Bildes so tief erfassen – wie müßte erst das Original auf Sie wirken, mit der Kraft seiner Farbe!«

      »Das hab ich gesehen.«

      »Wo? Und wann?«

      »Vor vier Jahren, im Sommer, als Papa mich mit nach München nahm, um die Ausstellung im Glaspalast zu besuchen. Da war auch dieses Bild. Und noch drei andere Werke Böcklins, das ›Schloß am Meer‹, die ›Toteninsel‹ und das ›Spiel der Wellen‹.«

      »Welchen Eindruck müssen diese Bilder auf Sie gemacht haben!«

      »Ich habe das noch heute so in Erinnerung, als hätt ich es gestern erlebt.« Lolos Stimme wurde leiser. »Ich denke nicht gern an jenen Tag. Es knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir weh tut.«

      »Fräulein?«

      »Als Papa diese Bilder sah, wurde er seltsam still. Dann nahm er meine Hand, drückte sie, daß es mich schmerzte, und sagte: ›Sieh, Lo, was ich immer will, der da, der kann es! Das ist ein Großer! Das ist Kunst!‹ Dabei war sein Gesicht so vergrämt, so trostlos – er hat lang gebraucht, um das zu überwinden.« Mit feuchtem Blick sah Lo zu Ettingen auf. »Daß er so gering von seiner eigenen Kraft und so groß von dem Können des anderen denken konnte, das spricht doch für ihn selbst? Hochmütig ist nur der Stümper, nur der Unfähige kann Neid empfinden. Wer in sich selbst das rechte, heilige Feuer brennen fühlt, kann mit neidloser Bewunderung zu der reicheren Kraft eines Größeren aufblicken.«

      Ettingen fühlte ihre beklommene Erregung. Das schmerzte ihn, und er suchte nach einem Wort, das sie beruhigen könnte. »Ihr Vater hatte unrecht, sich so klein zu fühlen! Ein Bild wie das da hätte auch Ihr Vater schaffen können, der die Natur so sehr verstand – gerade Ihr Vater –, wenn auch in anderer Form, doch mit dem gleichen, künstlerischen Wert, mit der gleichen Fülle der Gedanken!«

      »Mit dem gleichen Gedanken?« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Vater? Nein! Er war in seinem Wesen ein völlig anderer. In allen Bildern Böcklins liegt etwas Herbes und Unerbittliches, bei aller Schönheit, die er schuf. In ihm ist ein Stück Natur, die das Schöne nur erschafft mit dem Gedanken an die Zerstörung, der es verfallen muß. Sie kennen doch gewiß das Selbstporträt Böcklins?«

      »Auf dem er sich malte, wie ihm der Tod sein Geheimnis ins Ohr flüstert?«

      »Ja! Dieser Todesgedanke redet bei ihm aus allen Bildern, verläßt ihn nie und macht, daß er gering vom Wert des Lebens und von der Schwäche alles Menschlichen denkt. Deshalb wählt er auch mit Vorliebe seine Stoffe aus einer Zeit, in der die Kraft noch alles war und das Leben sich abspielte wie ein wilder leidenschaftlicher Kampf. Sehen Sie nur dieses Bild an! Scheint dieses Weib nicht sagen zu wollen: ›Sieh her, kleiner Mensch, wie groß und stark ich bin! Ich zwinge das wilde Tier, das mich tragen soll, wohin es mir beliebt. Willst du herrschen und ein König deines Lebens werden, dann mußt du sein, wie die Natur ist, stark und rücksichtslos!‹ – Das ist ein Gedanke, den mein Vater als Künstler nicht aussprechen konnte!«

      »Auch nicht als Mensch!« fiel Ettingen ein, mit einer Wärme, die nicht nur aus seiner Stimme, auch aus seinen Augen redete. »Was ich vorhin sagte, war ein törichtes Wort. Vielleicht war es auch ein wenig unehrlich. Ich wollte Ihnen über eine schmerzliche Stimmung weghelfen und sehe, daß Sie so überflüssiger Hilfe nicht bedürfen. Ihr Vater, ja, war anders als der Große, der dieses Bild da schuf. Deshalb nicht der Kleinere und Schwächere. Es ist etwas Schönes um die Kraft, die den Sieg erzwingt. Aber Sieg ist auch Glück. Und Glück hat nicht jeder, der es verdient. Und solche Mißgunst der launischen Göttin mit einem stolzen Lächeln zu verwinden, wie das Ihr Vater konnte – alle Enttäuschung des Lebens zu erfahren und doch dem Leben so gut zu sein, als Künstler die Anerkennung der Welt entbehren zu müssen und doch sich selbst getreu zu bleiben –, wer das vermochte, in dem war Kraft, die höher wiegt als der Ruhm eines Sieges!«

      Wie dankbar sie zu ihm aufblickte! »Ja, getreu, sich und denen, die er liebte – das ist er geblieben. Aber der Eindruck, den Böcklin auf ihn übte, hat etwas in ihn hineingedrückt, das er mit Gewalt wieder von sich abstoßen mußte: die Versuchung, diesen schönen Lebensfrieden, den er gefunden hatte, zu opfern, um den Kampf wieder aufzunehmen und auch zu siegen. Wie er da gesiegt hat! Mama und ich, wir wollten ihn bestärken und haben ihm zugeredet: Versuch es noch einmal! Aber da nahm er uns um den Hals und sagte: ›Nein!‹ Und alles, was in ihm wühlte, hat er sich mit einem Bild von der Seele gemalt. Das haben Sie nicht gesehen,