href="#ulink_bb9ee23a-01ee-57f2-9f8c-158d7a9c58d7">Das hinduistische Weltbild
Nachklassische Periode und Neohinduismus
Die Kolonialzeit (Mahātma Gāndhī)
Der Glaube der Jaina (Jainismus)
Der Glaube der Sikh (Sikhismus)
Grundwissen Hinduismus
Unter den großen Weltreligionen nimmt der Hinduismus aus mehreren Gründen eine Sonderstellung ein: Er ist nicht nur die älteste heute noch lebendige Religion – jene der Ägypter und Mesopotamier sind zwar älter, bestehen aber seit langem nicht mehr –, sondern zugleich das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung über 5.000 Jahre hinweg. »Der Hinduismus hat keinen Stifter, keinen Propheten, keine ›kirchliche‹ Organisation und kein Glaubensbekenntnis« (Raymond Hammer), er ist eigentlich gar keine Religion wie die anderen, sondern »ein Kollektiv von Religionen« (Heinrich von Stietencron) bzw. »das vielgestaltigste religiöse Gebilde, das die Gegenwart kennt« (Helmuth von Glasenapp).
Charakteristisch für die Hindus ist es, dass ihnen jeder Absolutheitsanspruch fremd ist. Wenn es scheinbar diametral gegenüberstehende Meinungen gibt, erklären sie nicht die eine für richtig und die andere für falsch, sondern suchen nach dem übergreifenden Zusammenhang, der sie als zwei Seiten einer Medaille erscheinen lässt. Sie lassen sich in ihrem Bewusstsein nicht einengen, sondern akzeptieren und anerkennen einander auch in all ihren Verschiedenheiten, weil sie ein einheitliches letztes Ziel aller Religiosität postulieren und einsehen, dass es wegen der ungeheuren Vielfalt der menschlichen Individuen, die auf sehr verschiedenen Entwicklungsstufen stehen, höchst unterschiedliche Wege geben muss, auf denen die Menschen zum gleichen Ziel unterwegs sind. Das hat dazu geführt, dass die Hindus eine ungewöhnlich große Fähigkeit entwickelt haben, Elemente anderer Religionen zu integrieren, Fremdeinflüsse zu assimilieren und bei all dem doch ihre eigene Tradition zu bewahren.
Das gilt aus ihrer Perspektive für die verschiedenen Hindu-Religionen ebenso wie für die Wege der »Häretiker« (z. B. Buddhisten oder Jainas) und auch der »andersgläubigen Barbaren« (z. B. für die europäischen Christen oder die Muslime). Für einen Hindu betrifft Vielheit immer nur die Oberfläche, er sieht dahinter die »übergreifende intentionale Einheit, insofern alle Religionen versuchen, dem Menschen einen Zugang zur Gottheit (oder zur letzten Realität, zum Absoluten) und zum wie immer definierten ›Heil‹ zu öffnen […]. Das betrifft alle Religionen der Menschheit«. (Heinrich von Stietencron)
Was Muslime oder Christen glauben und wie sie handeln sollen, ist im Wesentlichen festgeschrieben, weil es eindeutige Kriterien der jeweiligen Orthodoxie beziehungsweise Orthopraxie gibt, zu denen sie sich bekennen und an denen ihr Handeln zu messen ist. Nicht so bei einem Hindu, denn er gehört gleichzeitig ganz verschiedenen religiösen Systemen an, die einander sogar deutlich widersprechen können, denn ein Hindu hat – nach unserem westlichen Verständnis – nicht eine, sondern mehrere verschiedene Religionen. Und er behauptet selbst ja gar nicht, ein Hinduist zu sein. Dieser Name wurde erst vor rund 200 Jahren von europäischen Gelehrten geprägt, als sie sich im Zuge der Kolonialisierung mit dem Glauben der Hindus beschäftigten und der seltsamen exotischen Blume, die sie da unversehens entdeckten, einen Namen gaben, der sich im Laufe der Zeit zwar als unpassend herausgestellt hat, aber nicht mehr so leicht abzulegen ist. Schon allein dieses Faktum zeigt, wie wichtig es ist, unvoreingenommen nach dem eigentlichen Glauben der Hindus zu fragen, wenn man sich um ein Grundwissen des Hinduismus bemüht.
Für indische Verwaltungsbeamte ist jeder Inder ein Hindu, wenn er sich nicht ausdrücklich zu einer anderen Religion bekennt. Die neuere indische Rechtsprechung geht sogar noch weiter, indem sie auch Buddhisten (0,7 Prozent), Jainas (0,5 Prozent) und Sikhs (0,2 Prozent) zu den Hindus rechnet und nur Muslime (11 Prozent), Christen (2,4 Prozent) und Juden davon ausnimmt. Das bedeutet, dass 85 Prozent der Inder in diesem Sinne Hindus sind.
Nicht jeder Hindu praktiziert seine Religion. Auch hier hat sich die moderne Säkularisierungs-Bewegung ausgewirkt. Und die aktuellen Konflikte zwischen Indien und Pakistan haben nicht wirklich einen religiösen Ursprung, wie man in politischen Kommentaren oft zu hören bekommt, sondern wurzeln in teilweise sicherlich weit zurück reichenden, sehr komplexen politischen und ökonomischen Problemen.
Sicherlich ist der Hinduismus aufs engste mit der Mutter Indien, mit ihrer uralten Gesellschaftsordnung, langen Geschichte und auch mit ihrer Natur verbunden, die er voll von Leben sieht. Vor allem die Berge und Flüsse spielen im Alltag und im religiösen Leben eine bestimmende Rolle. Sie sprechen zu den Indern von den Mächten, die das menschliche Gestalten leiten oder ihm entgegen stehen und vermitteln ihm Erfahrungen von göttlichen und dämonischen Kräften, die seit Ewigkeiten wirksam sind. Deshalb nennen Hindus ihren Glauben gerne sanātana dharma (= ewige Religion). Daher wird oft behauptet, dass man »ein Hindu sei, weil man als Hindu geboren wurde«. Und von Rādhākrishnan, dem ehemaligen Staatspräsidenten Indiens, stammt der Ausspruch: »Hinduismus ist mehr eine Kultur als ein Glaubensbekenntnis«.
Die Entwicklung in den letzten Jahren ging leider insofern in eine andere Richtung, »als fundamentalistische Hindu-Gruppierungen (Welt-Hindu-Rat = VHP) und Parteien (BJP) nach einem nicht nur indischen, sondern hinduistischen Staat rufen: ›Hindi, Hindu, Hindustan gehören zusammen: Hindustan den Hindus!‹. Das sind gefährliche Parolen, denn rund ein Sechstel des indischen Staatsvolkes würde auf diese Weise an den Rand gerückt oder gar kulturell-politisch ausgeschlossen. Hindu-Massaker an Muslimen und neuerdings auch gewalttätige Übergriffe auf christliche Kirchen und Einrichtungen sowie Angriffe auf Priester und Nonnen lassen für die Zukunft des bisher so toleranten indischen Staates fürchten.« (Hans Küng)
Dass Indien und Pakistan im Besitz eines jederzeit verfügbaren Nuklearpotenzials sind, verleiht solchen Konflikten eine zusätzliche, höchst brisante überregionale Bedeutung.
Der Name Hindu geht zurück auf den Indus, den großen Strom im heutigen Pakistan, in dessen Bereich in der Mitte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts überaus interessante Funde gemacht wurden, die auf die Existenz einer uralten Induskultur schließen lassen, die bereits lange vor der indoarischen bestanden hat, in einer direkten Beziehung zu ihr steht, ja in ihr aufgegangen ist. Dies berechtigt uns nämlich erst dazu, den Hinduismus »die älteste lebendige Religion der Menschheit« zu nennen.
Im Sanskrit heißt der Indus Sindhu, davon stammt der alte Name Sind für das Land, das er durchfließt; dieser Name war bereits im 7. Jh. n. Chr. im Mittelmeerraum als der von Handelspartnern bekannt und ist heute noch der Name jener pakistanischen Provinz, die vom Indus durchflossen wird. Der griechischen Übersetzung des Namens aus der Zeit Alexanders d. Gr. – Indos bzw. lat. Indus – verdanken wir die deutsche Bezeichnung Indus und Indien. Auf persisch heißt Indus das Land, das der Indus durchfließt, und die Menschen, die dort leben, heißen Hindus. Erst die Europäer haben zwischen Indern und Hindus unterschieden und das erste Wort politisch-säkular, das zweite dagegen als religiös-kulturelle Bezeichnung verwendet. Alle eben genannten Völker werden uns in den folgenden Kapiteln