Klabund

Gesammelte Erzählungen von Klabund


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Zugspitze und der Wetterstein haben weiße Schneekappen auf.

      Winde spielen, und man ist so müde wie jene Wolke, die wie das Haupt eines schlaftrunkenen Kindes am Karwendel hingesunken ist und nicht weiter kann.

      Vor drei Wochen stand man auf der kleinen Isarbrücke, sah stromaufwärts, nach Tirol hinein, und dachte: Woher kommt das Wasser?

      Jetzt zögert man den Schritt auf derselben Brücke, blickt stromabwärts, dem Tal nach und fragt: Wohin fließt das Wasser?

      Und wenn man tausendmal weiß: die Isar fließt nach München. München ist nicht weit. München ist eine schöne Stadt. Man hat Freunde in München. Eine nette Wohnung. Bald wird man wieder in München sein ...

      Ist München unsere Heimat? Hast du überhaupt eine Heimat: trauriger Reiter zu Fuß?

      Wo fließt die Isar dann hin? Von München ...?

      *

      Im Warenhaus in der Hauptstraße von Mittenwald liegt ein Karton mit Franzosen aus. Ganz richtige Franzosen: mit roten Hosen, blauen Fräcken, Käppis und echt französischen Visagen.

      Sie stammen aus einer Nürnberger Spielwarenfabrik, sind sehr dauerhaft genäht und kosten Stück für Stück fünfzig Pfennig.

      Sie sind beinah echter als die wirklichen Franzosen und sind gar nicht entsetzlich anzusehen: ein wenig melancholisch, ein wenig grotesk, aber voll Charme.

      Die Ladeninhaberin sagte: sie habe schon ein paar Schachteln verkauft.

      Die Kinder gehen sehr zart mit ihren kleinen Gefangenen um. Sie lassen ihnen viel Freiheit. Sie werden sogar in einem Wagen mit ihren feldgrauen Brüdern spazieren gefahren und ganz wie Brüder, zum mindesten wie Vettern behandelt.

      Es ist gut, daß die Kinder wieder anfangen, mit Franzosen zu spielen ....

      *

      Auf einem Starnbergerseedampfer traf ich vorgestern als einzigen Passagier außer mir eine junge Dame, die ich Winter 1913 in Arosa kennen gelernt hatte.

      Wir gaben uns die Hand und sahen uns ein wenig verwundert an.

      »Wir sind uns doch nicht fremd,« sagte die junge Dame gequält, »wir haben uns doch einmal gut gekannt. Wann war das? Bitte helfen Sie mir ...«

      »Das war vor dem Kriege ... 1913 ...«

      »1913 ... vor dem Kriege ... ich habe im Kriege mein Gedächtnis verloren ... aber soviel weiß ich noch, daß wir bei dem Faschingsfest in der Aroser Pension die beiden Siouxindianer waren ... wir erklärten damals der ganzen Welt den Krieg. Jetzt hat die Welt uns den Krieg erklärt ... ich werde nie mehr lachen können ... ich bin wie jener Baum am Ufer dort ... sehen Sie ... ganz mit braunen Laub bedeckt ... es gibt nur noch Herbst auf der Welt ...«

      Allerseelen

       Inhaltsverzeichnis

      Heut lag es wie Schnee in der Luft.

      Ich dachte, es würde schneien. Die Wolken hingen bis zwischen die Häuser und wehten wie Laken vor den Fenstern.

      Der Rauch aus den Schornsteinen wand sich wie schwarze Papierschlangen im Karneval um die Dächer.

      Schließlich regnete es. Ein langer langsamer Regen.

      Ein Regen, der sich selber zum Mißmut regnen muß.

      Die Lichter der Laternen in der Ludwigstraße stachen wie goldene Bajonette durch den Asphalt und glänzten in der Tiefe. Wenn man heruntersah, glaubte man zu fliegen.

      Ein matter Vogel, mit dem klirrenden Flügelschlag des Abends.

      Zeppeline fuhren als Trambahnen über den Asphalthimmel. In den Augen der Frauen dämmerte der Herbst.

      Heut ist der Tag aller Seelen.

      Heut wollen wir nicht Leib sein. Auch nicht heiliger Leib oder Leib des Herrn. Leib der Frau. Nur Seele. Schneegewölk. Sinkendes Laub. Singender Wind.

      Wie viele Gräber muß ich heute besuchen. Wie viele Gräber will ich suchen, die ich nicht finden werde.

      Im Waldfriedhof, zwischen den Bäumen, liegen die Gräber wie tote Tiere. Da ein Igel. Dort ein Fuchs. Ein Reh. Einige Kaninchen.

      Der Regen fällt wie Tannennadeln von den Bäumen. Ich sitze auf einem Grab. Weil ich müde bin. Müde des Irrens in der Wildnis des Krieges.

      Ich weiß nicht, auf welchem Grab ich sitze.

      Ich habe nicht hinter mich gesehen auf die eiserne oder marmorne Tafel.

      Wer du auch seist: der du hier unter dem Moose liegst: du bist mein Freund.

      Nimm den Schmerz des Lebenden um deinen Tod, um den Tod aller deiner Brüder, nimm ihn in deiner braunen rauschenden Tiefe gern und gnädig an.

      Du ruhst auf dem Grunde des Meeres aller Dinge wie ein schöner Seestern und die silbernen Wogen ziehen über dich hin wie Schwalben.

      Wie sind wir einst im blühenden Licht des Frühlings geschritten, jubelnde Genien.

      Wie jung warst du, mein Freund, ein springender Hirsch. Hamburg war deine Heimat und du warst voll Rauch des Hafens und voll Weite des Meeres. Voll roter Korallen und klingend vom Geläut hanseatischer Türme.

      Wir wohnten in Tegernsee zusammen im Gasthof zum Alpbach, am Eingang des Tales, das nach Schliersee herüberführt.

      Jeden Morgen ließen wir uns im Kahn auf die Höhe des Sees treiben. Dann lagen wir der Länge lang auf dem Rücken im Boot und du sagtest, du könntest selbst am hellsten Tag die Sterne sehen.

      So scharfe Augen hattest du.

      Am Abend liebten wir ein und dasselbe Mädchen. Enzianblaue Augen und rote Haare. Ein Eichhörnchen. »Oachkatzl,« sagte sie immer und lachte. Sie liebte uns beide, aber ich glaube, sie liebte dich mehr als mich. Weil du dem heiligen Franz in ihrem Gebetbuch so ähnlich sahst.

      Was du immer werden wolltest, wurdest du jetzt: Erde. Ewige Erde. Humus wurdest du und deine Kraft wuchs in die Bäume hinein.

      Diese Tanne, die ich umarme und die mir brüderlich die Wangen streift: du bist es. So bist du zugleich über- und unterirdisch.

      Zugleich Tod und Leben.

      Der ich armselig durch die Oktobernacht des Daseins taumle, dunkel und frierend, mit der Ungewißheit des Lebens und der Gewißheit des Sterbens: ich bin weniger als du, mein toter Kamerad, und nur wie eine blaue Blume auf deinem Grabe. Meine Hoffnung ist nur eine Hoffnung des Schmerzes, und mein Glaube nur der Glaube aller Seelen.

      Nachts

       Inhaltsverzeichnis

      Es schlägt ein Uhr.

      Ich ziehe den Vorhang vom Fenster zurück und sehe auf den Hof. Wachsweiß und wie Attrappen stehen die Häuser im Vollmond. Zwischen die Häuser ist mit schwarzer chinesischer Tusche der Himmel gemalt.

      Man ahnt einige Sterne. Aber man sieht sie nicht.

      Wohnen hinter diesen Kulissen aus Pappe Menschen? Das kann nicht sein. Und wenn es schon Menschen sind, so müssen sie auch aus Pappe sein. Aus Bilderbogen ausgeschnitten. Auf der Vorderseite bunt und schmuck und martialisch. Auf der Rückseite nur leeres weißes Papier. Mit dem Namen der Firma, die sie gedruckt hat, in ganz kleinen Lettern.

      Welche Firma ist den Menschen, welche in diesen Häusern wohnen, eingebrannt? Gott? Teufel? Liebe? Geiz? Trunksucht? Mut? Demut?

      Ich höre einen Schritt.

      Der Schritt klingt ganz für sich. Losgelöst von einem Körper. Er tickt durch die Straßen. Wie eine Uhr.

      Der