Vielleicht war sie inzwischen wirklich zu engstirnig und vorsichtig. Warum nicht einmal die Dinge entspannt auf sich zukommen lassen und gut gelaunt genießen? Mal abgesehen davon, dass ihr Leben offenbar doch nicht so unspektakulär war, wie sie gedacht hatte. Würde sonst ein aufregender Mann wie Hanno Thalbach derart nachdrücklich um ihre Gesellschaft bitten?
*
Désis Hausaufgaben nahmen mehr Zeit in Anspruch als gedacht, und der Abend war schon weiter vorangeschritten als gedacht, als Daniel Norden endlich aus dem Zimmer seiner Tochter kam. Fee hatte sich in der Zwischenzeit ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Seit einigen Monaten absolvierte sie eine Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und musste neben ihrem Praktikum an der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik fleißig lernen.
Da auch die anderen Familienmitglieder beschäftigt waren, setzte sich Daniel Norden schließlich allein ins Wohnzimmer und schaltete lustlos den Fernseher ein. Er zappte durch die Programme, fand aber nichts Ansprechendes und schaltete den Apparat wieder ab. Eine Weile saß er im Wohnzimmer und lauschte auf die Geräusche des friedlichen Abends, die durch die offen stehende Terrassentür hereindrangen. Ab und zu fuhr ein Wagen vorbei. Irgendwo saßen junge Leute zusammen und unterhielten sich. Hin und wieder lachten ein paar von ihnen. Sonst war alles still, und unwillkürlich wanderten Daniels Gedanken wieder zu seiner jungen Patientin Teresa Berger, die er eigentlich hatte besuchen wollen. Nach einem Blick auf die Uhr traf er eine Entscheidung und stand auf.
»Ich fahr schnell noch einmal in die Klinik«, teilte er seiner Frau mit, die hochkonzentriert inmitten Bergen von Büchern und einem Wust an Papier saß.
»Hmmm«, antwortete Felicitas, ohne den Kopf zu heben.
Daniel hatte Verständnis für dieses Maß an Versenkung und zog sich lächelnd zurück. Er bewunderte seine fleißige Frau grenzenlos für ihren Ehrgeiz und dachte sogar noch daran, als er die Klinik betrat.
»Nanu, Kollege Norden, sind Sie verliebt oder warum lächeln Sie so selig?«, erkundigte sich die Chirurgin Dr. Paula Clement launig. Sie hatte Nachtschicht und freute sich über den Besuch des Allgemeinarztes. »Und was machen Sie überhaupt um diese Uhrzeit in der Klinik? Hatten Sie Sehnsucht nach mir?«, fragte sie frech und zwinkerte ihm zu.
»Ehrlich gesagt eher nach einer Auskunft von Ihnen«, gab Daniel offen zu, und Paula verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen.
»Das ist mein Schicksal. Hier in der Klinik geht es immer nur um meine fachliche Kompetenz.« Seite an Seite mit ihrem Kollegen wanderte sie den Klinikflur hinunter. Sie hatten dasselbe Ziel.
»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie keine Chancen auf dem Markt der Eitelkeiten haben?« Ungläubig schüttelte Daniel Norden den Kopf und musste unwillkürlich an seinen Patienten Stephan Hagedorn denken, der ähnliche Probleme hatte wie seine Kollegin.
Mit ihren blauen Augen zu den dunklen Haaren und dem ovalen Gesicht war Paula Clement eine äußerst aparte Erscheinung. Zudem war sie alles andere als zickig, dafür intelligent und humorvoll, warmherzig, witzig und loyal. Im Grunde genommen war Paula Clement der fleischgewordene Männertraum. Zumindest in der Theorie. Wie bei so vielen Ärzten scheiterte es aber an der Praxis, der kaum vorhandenen Freizeit. Ständig wechselnde Arbeitszeiten, Bereitschaftsdienste und kaum freie Wochenenden bereiteten jeder hoffnungsvollen Liebelei ein schmerzliches Ende.
»Stellen Sie sich vor: In meiner Verzweiflung hab ich’s sogar mit einer Singlebörse im Internet versucht«, erwiderte Paula düster und steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen ihres Kittels. »Aber wenn das so weitergeht, lösche ich mein Profil wieder. Noch ein einziger attraktiver, erfolgreicher, gebildeter Geschäftsmann, und ich drehe durch.«
Nur mit Mühe konnte Daniel ein Lachen unterdrücken.
»So schlimm?«, fragte er und versteckte sich hinter einem Hustenanfall.
Paula Clement bemerkte es nicht.
»Noch schlimmer. Die meisten Angaben im Internet sind gelogen oder gnadenlos geschönt. Inzwischen glaube ich gar nichts mehr!« Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Dann doch lieber harte medizinische Fakten. Da weiß man wenigstens, was man hat.« Sie waren vor der Station angekommen, und Daniel hielt ihr zuvorkommend die Tür auf.
»Bestimmt braucht man eine sehr ausgeprägte Menschenkenntnis, um die Joker aus der Vielzahl der Anzeigen herauszufischen«, gab Daniel Norden unumwunden zu. Dabei war er mehr als froh, seit so vielen Jahren glücklich verheiratet und nicht gezwungen zu sein, solche Wege zu gehen.
»Oh, tun Sie sich keinen Zwang an. Sie können mir gern bei der Auswahl behilflich sein«, schmunzelte Dr. Clement amüsiert. »Vielleicht durchschauen Sie Ihre Geschlechtsgenossen ja besser als ich.«
»Bei Gelegenheit können wir das gern versuchen. Aber zunächst einmal bin ich wegen den harten medizinischen Fakten hier«, schlug Daniel Norden den Bogen zurück zum Grund seines Besuchs. »Jenny hat mir am Telefon gesagt, dass Sie die Resektion von Teresa Bergers Zeh übernommen haben.«
»Richtig.« Sie betraten einen kleinen Aufenthaltsraum am Anfang des Flurs. »Kaffee?«, fragte Paula zuvorkommend.
»Nein, danke!«, lehnte Daniel ab und sah ihr dabei zu, wie sie sich eine große Tasse des rabenschwarzen Gebräus einschenkte. Ohne Milch und Zucker trank sie einen großen Schluck und dachte dabei an die Operation des vergangenen Nachmittags.
»Die Resektion ist ganz gut verlaufen. Jetzt müssen wir abwarten, ob die Entzündung abklingt.«
»So, wie das Nagelbett ausgesehen hat, besteht nach wie vor die Gefahr einer Sepsis«, mutmaßte Daniel ernst und griff nach einem Keks, der in einer Schale auf dem Tisch lag.
»Nicht nur das«, stimmte Paula Clement zu. »Auch eine nekrotisierende Fasziitis ist nicht ausgeschlossen. Frau Bergers Allgemeinzustand ist nicht der beste. Sie ist so abgemagert, dass ihr Körper möglicherweise nicht viel Widerstandskraft hat.«
Daniel Norden seufzte. Diese Problematik war ihm durchaus bewusst.
»Wollen wir hoffen, dass das Glück auf unserer, respektive auf Frau Bergers Seite ist«, tat er seine Hoffnung kund. »Kann ich mal nach ihr sehen?«
Paula Clement nickte lächelnd.
»Wenn Sie mir versprechen, nachher noch mal bei mir vorbeizukommen. Es gibt da einen letzten vielversprechenden Kandidaten, den ich gern kennenlernen würde. Wenn Sie Ihre Menschenkenntnis auf ihn anwenden würden …?« Sie legte den Kopf schief und lächelte ihn so schmelzend an, dass Daniel nicht anders konnte, als lachend sein Versprechen zu geben, bevor er sich auf den Weg zu Teresa machte.
*
Trotz der fortgeschrittenen Stunde hatte Teresa noch überraschend Besuch bekommen. Niemand anderer als ihr Bruder hatte sich die Mühe gemacht und war mit seinem Mofa in die Klinik gefahren. Nachdem er sich nach dem Gesundheitszustand seiner Schwester erkundigt hatte, war er halbwegs beruhigt und wandte sich einem anderen, für ihn brennend wichtigen Thema zu, das auch der eigentliche Grund für seinen Besuch war.
»Ich hab dir doch vor ein paar Tagen von dem Festival morgen Abend erzählt«, begann Anian vorsichtig und zog sich einen Stuhl ans Bett.
Teresa, noch müde von dem überstandenen Eingriff am Fuß, blinzelte angestrengt ins Licht und dachte nach.
»Du meinst das Konzert auf dem alten Flughafengelände in München?«, erinnerte sie sich dunkel an Anians Frage.
»Stimmt genau. Ich muss endlich wissen, ob ich hingehen darf. Sven will die Karten besorgen, bevor es restlos ausverkauft ist«, erklärte der Teenager ungeduldig und rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her.
Nur mit Mühe konnte Teresa ein Stöhnen unterdrücken. Eigentlich hatte sie keine Kraft, um so eine nervenaufreibende Diskussion zu führen.
»Ich hab dir doch neulich schon gesagt, dass ich das nicht so toll finde«, erinnerte sie Anian matt an ihre Worte. »Das Konzert geht erst am späten Nachmittag los und dauert bis tief in die Nacht. Da darf ich dich nicht hinlassen, selbst wenn ich wollte. Du bist minderjährig, und ich habe die Aufsichtspflicht.