Die Bahnverbindungen funktionierten. Das Rechtssystem funktionierte – trotz aller Differenzen der gut ein Dutzend Nationen und Sprachen, die auf den Geldscheinen der Monarchie dokumentiert waren. Jedem Hellsichtigen aber war klar, dass nach dem Tod des Kaisers, der durch die bloße Länge seiner Regierungszeit zum staatserhaltenden Mythos geworden war, etwas passieren müsse, ja passieren werde.
Selbst die tödlichen Schüsse von Sarajewo Ende Juni 1914 hallten nur ein paar Tage nach, ehe sich die Wiener Bürger auf Sommerfrische begaben. Der Thronfolger und seine tief religiöse, aber keineswegs »ebenbürtige« Ehefrau Sophie waren in breiten Bevölkerungskreisen unbeliebt gewesen. Die Vorstellung, dass Franz Ferdinand Kaiser werden würde, hatte viele verängstigt. Dennoch stieß die unwürdige Art, wie der Fünfzigjährige und seine Frau in der Familiengruft auf Schloss Artstetten beigesetzt worden waren, auf Unverständnis und Ärger. Der alte Monarch wurde dafür nicht verantwortlich gemacht, wohl aber seine Umgebung, die peinlich genau auf der Einhaltung eines Zeremoniells beharrte, das längst nur noch in »Kakanien« ernst genommen werden konnte.
Der neue junge Thronfolger, Erzherzog Karl Franz Joseph, war für die meisten Bürger ein unbeschriebenes Blatt. Immerhin wirkte der junge Mann freundlich, er bewies soziale Empathie und war augenscheinlich anständig. Vor ihm musste sich wenigstens niemand fürchten. In die Entscheidungen nach der Ermordung von Franz Ferdinand wurde der künftige Kaiser nicht eingebunden, niemand kam auf diese Idee.
Noch einmal Atemholen, die schönen Frühsommertage genießen, die Abreise in die Sommerfrische vorbereiten. Die Kurorte im Salzkammergut erwarteten ihre Gäste, die Seebäder an der Adriaküste warben um Sonnenhungrige und die, die es sich leisten konnten, machten sich auf den Weg an die Côte d’Azur oder die fashionablen Seebäder an der Atlantikküste.
Die todbringenden Mechanismen der europäischen Bündnisverpflichtungen hatten sich indes zu bewegen begonnen.
Kaiser Wilhelm II. segelte mit seiner Yacht auf große »Nordlandfahrt«. Der alte Kaiser Franz Joseph I. dampfte nach Bad Ischl in die Sommerfrische. Arthur Schnitzler genoss die »schönen Sommertage«. Stefan Zweig reiste an die belgische Nordseeküste. Alma Mahler richtete ihr neues Haus am Semmering ein. Der serbische Generalstabschef fuhr zur Kur nach Bad Gleichenberg. Und Baron Rothschild sah keinen Grund, seine Investitionsstrategie zu verändern und etwa Geld oder Gold aus Europa abzuziehen.
Während Europa den »Sommer des Jahrhunderts« genoss, stellten einige wenige Dutzend Diplomaten und Militärs – von der uninformierten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – die Weichen zum Krieg. Niemand fiel ihnen in den Arm. »Der Krieg ist nicht ausgebrochen, wie immer geschrieben wird, er ist gemacht worden mit der Vehemenz, mit der er gewollt wurde«, schreibt Rolf Hochhuth in seinem Theaterstück Sommer 1914. »Ein Tier kann ausbrechen, ein Krieg muss entwickelt werden. Das setzt ein ziemlich kompliziertes Zusammenspiel vieler voraus, deren Intelligenz immerhin ausreichen muss, für die Nachwelt den Anschein zu erwecken, der Feind sei der Schuldige.«
Das Paradoxon des Jahres 1914: Für den Kriegsausbruch waren die echten machtpolitischen Gegensätze in Europa nicht entscheidend. Weder der deutsch-englische noch der deutsch-französische noch der deutsch-russische Gegensatz haben zur Katastrophe geführt. Der Weltkrieg entzündete sich im Hinterhof der europäischen Politik und explodierte innerhalb von wenigen Tagen. Deutschland wollte weder von Frankreich noch von Russland Gebiete erobern, noch konnte das deutsche Kaiserreich die englische Flottendominanz auf den Weltmeeren ernsthaft gefährden. Und auch Österreich-Ungarn versuchte erst nach Kriegsbeginn weitgehend haarsträubende Ziele zu definieren.
Die »schönen Tage« endeten mit einem Schock, der durch patriotischen Jubel und ebensolche Propaganda überlagert wurde. Innerhalb von wenigen Tagen, ja Stunden wurde die offenbar hohle Fassade der »guten, alten Zeit« abgewrackt. Der »Dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts« konnte ohne nennenswerten Widerstand beginnen. Seit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo durch den bosnisch-serbischen Mittelschüler Gavrilo Princip, als Teil eines großserbischen Komplotts, waren die europäischen Großmächte in einer – scheinbar – schicksalhaften Maschinerie der Drohungen, der Ultimaten, der Mobilisierung und der patriotischen Aufwallungen gefangen. Der »falsche Krieg« – so ein Buchtitel des britischen Historikers Niall Ferguson – scheint nicht aufzuhalten gewesen zu sein. Wie »Schlafwandler« – so ein anderer Buchtitel – taumelten die europäischen Mächte dem Abgrund entgegen.
Die geheimnsivolle Kraft des Mondes lenkte die Diplomaten nicht. Sowohl am 28. Juni in Sarajewo als auch am 1. August, dem Tag der deutschen Kriegserklärung gegen Russland, zeigte der Himmelskörper keine Anomalie. Der zunehmende Mond beschien in milden Sommernächten eine Szenerie, in der sich alle – fast alle – gesellschaftlichen Kräfte in die neue Front einreihten. Nationalkonservative, Christlichsoziale und Sozialdemokraten, Künstler und Arbeiter, Dichter und Maler, Frauen und Männer, ja auch Kinder fügten sich nicht nur in das drohende Schicksal. Der Krieg wurde – fast allgemein – begrüßt: Endlich eine Entscheidung! Doch wofür, wogegen, warum glaubten Millionen, sich entscheiden zu müssen? Welche Lösung nationaler und sozialer Fragen erwarteten sie von einem blutigen Gemetzel? Der Beginn des Krieges wurde als Katharsis erlebt. »Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung«, beschrieb – durchaus zustimmend – Thomas Mann diese Stunden. Der Wiener Schriftsteller Raoul Auernheimer bewahrte selbst im Taumel und Schock des 1. August im Feuilleton der Neuen Freien Presse, dem Zentralorgan des liberalen (jüdischen) Wiener Bürgertums, Distanz zur unkritischen Euphorie: »So hat das Schlimmste sein Gutes und sogar das Schlimmste kann am Ende fruchtbares Erlebnis werden – freilich nur für jene, die nicht daran sterben.«
Stefan Zweig wunderte sich erst Jahrzehnte später in seiner Lebensbilanz Die Welt von Gestern über das Massenphänomen »Krieg« und wohl auch über seine eigene patriotische Zustimmung. »Der erste Schrecken über den Krieg, den niemand gewollt, nicht die Völker, nicht die Regierungen, diesen Krieg, der den Diplomaten, die damit spielten und blufften, gegen ihre eigene Absicht aus der ungeschickten Hand gerutscht war, war umgeschlagen in einen plötzlichen Enthusiasmus. Aufzüge formten sich in den Straßen, plötzlich loderten überall Fahnen, Bänder und Musik, die jungen Rekruten marschierten im Triumph dahin, und ihre Gesichter waren hell, weil man ihnen zujubelte, ihnen, den kleinen Menschen des Alltags, die sonst niemand beachtet und gefeiert.« Und Robert Musil formulierte dieses Gefühl schon in den Augusttagen 1914: »Der Krieg, in anderen Zeiten ein Problem, ist heute Tatsache. Viele der Arbeiter am Geiste haben ihn bekämpft, solange er nicht da war. Viele ihn belächelt. Die meisten bei Nennung seines Namens die Achseln gezuckt, wie zu Gespenstergeschichten. Es galt stillschweigend als unmöglich, dass sich die durch eine europäische Kultur und eine weitgehend freie Marktwirtschaft sich immer enger verbindenden großen Völker noch zu einem Krieg gegeneinander hinreißen lassen könnten. Das dem widersprechende Spiel des Allianzensystems erschien bloß wie eine diplomatisch sportliche Veranstaltung.«
Das galt 1914. Und heute? Nie zuvor in der Geschichte durften sich so viele Menschen in Europa so sicher fühlen. Kaum jemand glaubt – im Hier und Jetzt – hundert Jahre nach der Auslösung des Ersten Weltkrieges mit seinen 25 Millionen Opfern an die Möglichkeit eines neuerlichen Gewaltausbruchs in Europa.
Am Beginn des dritten Jahrtausends werden Kriegsgefahr, Bankenkrach, Staatsbankrott, Währungskrisen, Massenarbeitslosigkeit, Hass und Nationalismus als überholte historische Begriffe aus einem anderen Jahrhundert erlebt. Etwa nicht?
Wir fühlen uns heute sicher: so sicher wie die Menschen am Beginn der »Schönen Tage. 1914«.1
31. Dezember 1913 »Es war ganz animiert«
Dr. Arthur Schnitzler hat Glück. Der Schriftsteller verbringt die ersten Stunden des Jahres mit Freunden beim Roulette und notiert am Morgen darauf in sein Tagebuch: »Ich blieb ziemlich al pari; man blieb bis nach 4. Es war ganz animiert.« Dabei war für ihn der letzte Tag des alten Jahres recht mieselsüchtig verlaufen. »Tagsüber sehr nervös. Uneins mit O.« Der Haussegen bei Schnitzlers hing schief. Die Ehe mit seiner Frau Olga konnte als »zerrüttet« gelten. Und auch seine Silvesterlektüre konnte kaum zu guter Laune verhelfen. Schnitzler