Gerhard Jelinek

Schöne Tage 1914


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Hollweg. Er verlor die Vertrauensabstimmung. Fast alle Parteien, vom Zentrum über die Nationalliberalen bis zu den Sozialdemokraten, stimmten für einen Rücktritt des Reichskanzlers, der die Affäre beschönigt und die Offiziere verteidigt hatte. Bethmann Hollweg wurde nur von Kaiser Wilhelm im Amt gehalten. Das Vertrauen einer großen Parlamentsmehrheit hatte er verspielt.

      In Paris tobte die Presse. Die Zeitungen sahen die französische Ehre von den Preußen in den Schmutz getreten. Über Monate beherrschte die »Zabern-Affäre« die öffentliche Debatte. Der Hass gegen die deutschen Besatzer von Elsass-Lothringen wurde in Blei gegossen, millionenfach gedruckt. Die Proteste im Deutschen Reich gegen das Vorgehen der Militärs, die sich über das Gesetz gestellt wähnten, hielten bis ins Jahr 1914 an. Beim Prozess vom 5. bis zum 10. Januar durften im Strassburger Militärgericht in den ersten drei Reihen keine Zivilisten sitzen. Die Armeerichter hoben die strafrechtliche Verurteilung des Regimentskommandeurs Adolf von Reuter, der wegen Körperverletzung und unrechtmäßigen Waffengebrauchs angeklagt war, wieder auf, aber sie konnten sich in ihrem Urteilsspruch nur auf eine preußische Order aus dem Jahr 1820 berufen.

      Das provokante Militärgerichtsurteil schaukelte die nationalistischen Emotionen in Frankreich weiter auf und vertiefte die Kluft zwischen der Militärführung und den demokratischen Parteien im Berliner Reichsrat. In Wien polemisierte die beinahe-offizielle Danzer’s Armee-Zeitung gegen die Haltung der deutschen Parteien: »Dieser Sturm der Entrüstung, dieses provokante Brüllen unverantwortlicher Hetzer, dies läppisch-großartige Misstrauensvotum hat dem Glanz des Deutschen Reichs fressenden Rost angesetzt. Kein Kaiserwort hat ihn bisher blank geschmiedet.« Die Zeitungen in Österreich berichteten auf vielen Spalten über die »Zabern-Affäre«. Die Grazer Tagespost zitiert den sozialdemokratischen Abgeordneten Peirotes aus der Sitzung des Berliner Reichstages mit einer revolutionären Forderung: »Die Forderung nach Abschaffung der Militärgerichte muß mit allem Nachdruck erhoben und die Kommandogewalt des Kaisers eingeschränkt werden.«

      12. Jänner 1914 »Auf Wiedersehen in Schleswig!«

      Der Magistrat der Stadt Schleswig lädt »Schleswig-Holstein-Kämpfer des Jahres 1864« zu den Festveranstaltungen in die norddeutsche Stadt. Per Inserat wird in österreichischen Tageszeitungen für die Fünfzigjahrfeiern am 5. und 6. Februar in Schleswig geworben. »In diesem Jahr ist ein halbes Jahrhundert verflossen, seit Ihr bereit waret, Euer Leben für die deutschen Brüder im hohen Norden Deutschlands zu opfern. Glänzende Siege habt Ihr 1864 bei Schleswig unter Eurem genialen Führer von Gablenz errungen und so Schleswig-Holsteins Hauptstadt, die sagenreiche, meerumspülte Stadt Schleswig, von dänischer Herrschaft befreit. Von unendlichem Jubel begrüßt, seid Ihr am Morgen des 6. Februar 1864 in unsere fahnengeschmückte Stadt eingezogen. Mit jubelnder Begeisterung werdet Ihr wiederum bei uns empfangen werden, wenn Ihr kommt, um mit uns und unserer Provinz die Befreiung unserer Stadt zu feiern.« Wie viele Veteranen den weiten Weg nach Schleswig gefunden haben? Einige wenige nur werden die schwarz-gelbe Fahne in Erinnerung an den letzten Sieg eines Habsburger-Heeres im Umzug mitgetragen haben.9

      14. Jänner 1914 »Eine äußerliche Kultur soll in solchen Fällen nicht allein triumphieren«

      Am Mittwoch, 14. Jänner 1914, hebt sich endlich auch in der Wiener Hofoper der Vorhang für Richard Wagners Parsifal. Wien hinkt im Aufführungs-Wettrennen zwei Wochen hinterher. Franz Schalk dirigiert die Premiere vor einem Bühnenbild von Alfred Roller. Die Vorstellung im k. u. k. Hofoperntheater beginnt bereits um vier Uhr nachmittags und stellt die Damen, mehr noch die Herren vor ein gravierendes Problem: Was zieht die bessere Wiener Gesellschaft zur Premiere an? In den Wiener Zeitungen wird die »Toilettenfrage« ausführlich erörtert und die Grazer Tagespost ist tags darauf ihr spöttisches Echo. »Ebenso ernsthaft wurde die Lösung der Frage gegeben: im Zwischenakt Jackett mit dem Frack zu vertauschen; die Nachmittags- mit der Abendtoilette. Man kann sich die weihevolle Seelenstimmung des nach Hause jagenden Umziehers vorstellen, auch seinen Stolz, wenn er richtig angezogen wieder zurückkommt. Es ist erreicht.« Das steirische Blatt schickt freilich mahnende Worte nach Wien. »Gewiß kann man gesellschaftliche Fragen anerkennen, aber eine äußerliche Kultur soll in solchen Fällen nicht allein triumphieren.«

       Richard Wagners Oper Parsifal eröffnet das Jahr 1914 musikalisch. 30 Jahre nach dem Tod des Komponisten darf das Werk erstmals außerhalb von Bayreuth aufgeführt werden.

      Besucher der ersten Parsifal-Aufführung in der Hofoper mussten tief ins Portemonnaie greifen. Die Preise wurden von der Direktion zugunsten des »Pensions-Institutes« der Hofoper exorbitant erhöht. Das Wiener Publikum erwies sich freilich als wenig spendabel. Schon die zweite Vorstellung war nicht ausverkauft, ganze Logen blieben leer. Dafür warteten Triestiner Parsifal-Fans bis zur Sperrstunde im Café Specchi und harrten danach im schweren Bora-Sturm vor dem Theater aus, bis die Kasse am Morgen geöffnet wurde. Die Strapazen blieben unbelohnt. Nur wenige erhielten Karten, »da fast das ganze Theater durch Abonnements vergeben ist«. Die Wagnermania ebbte bald ab. In Wien fand der zweite Parsifal-Zyklus Ende Jänner dann wieder zu normalen Preisen statt. Und auch die Bekleidungsfrage spielte keine dominante Rolle mehr. Der Frack konnte im Kasten bleiben, lange Kleider trugen die Damen sowieso.10

      14. Jänner 1914 »Mitterndorf und die katholischen Sittengebote«

      Mitterndorf gibt die Geburtenstatistik für das abgelaufene Jahr 1913 bekannt. In der etwas mehr als 2000 Seelen zählenden Pfarre kamen im Vorjahr 59 Kinder zur Welt. Davon waren 36 Jungbürger ehelicher Herkunft, aber immerhin 23 Mitterndorfer wurden unehelich geboren. Das belegt: Mit den katholischen Sittengeboten nahmen es die Bewohner der steirischen Salzkammergut-Gemeinde anno 1913 nicht allzu ernst. Der Anteil unehelicher Kinder war damit vor dem Ersten Weltkrieg – zumindest in Mitterndorf – mit etwa 40 Prozent so hoch wie heute. Der Pfarrer in der steirischen Gemeinde segnete im ganzen Jahr nur neun Ehepaare – keine guten Aussichten für die Bevölkerungsstatistik im Ort mit dem überwältigenden Grimmingblick.

      In den vier Kriegsjahren sollte die Einwohnerzahl von Mitterndorf – wie in fast allen Gemeinden der Monarchie – um etwa fünf Prozent sinken.11

      15. Jänner 1914 »Der Hochdruckteil im südwestlichen Rußland ist durch Hereinrücken der nördlichen Depression zerstört worden«

      Der »Telegraphische Wetterbericht der k. k. Zentralanstalt für Meteorologie in Wien« meldet am 15. Jänner um sieben Uhr morgens ein Mittelmeertief und ein Hochdruckgebiet über dem Nordwesten. »Der Hochdruckteil im südwestlichen Rußland ist durch Hereinrücken der nördlichen Depression zerstört worden. Die Mittelmeer-Depression ist stationär.« Der meteorologischen Logik zufolge scheint in den nördlichen Alpenländern die Sonne »bei intensivem Frost«. Salzburg meldet minus 8,6 Grad, auch in Wien ist es eher frisch. Und am Semmering frieren die Wintersportler bei minus 11 Grad. Die Puchwerke AG in Graz bietet passend zur Wetterlage »Schneeketten für alle Dimensionen« zum Kauf. Der Grazer Lokalreporter der Tagespost rutscht angesichts der weißen Pracht ins Lyrische: »Ununterbrochen wirbelten gestern tagsüber die Flocken hernieder und bedeckten immer dichter Fahrbahnen und Wege. Man hört kein Rumpeln der Wagen, der Straßenlärm ist gedämpft und nur der Schnee knirscht unter den Füßen der Passanten. Die liebe Jugend begrüßt den Gast mit Freude und etabliert, wo es nur halbwegs möglich ist, seine Wintersportplätze.«

      In der steirischen Landeshauptstadt schneit es am 15. Jänner ohne Unterlass, dagegen sitzen die Klagenfurter in den oberen Stockwerken ihrer Häuser auf dem Trockenen. In der Stadt ist die Wasserversorgung ausgefallen. Sämtliche Reservoirs sind leer. Die Stadtverwaltung macht die Bürger für die Misere verantwortlich. Der akute Wassermangel sei Ergebnis einer »geradezu ungeheuerlichen Wasserverschwendung seitens der Bevölkerung«. Per Rundschreiben des Klagenfurter Magistrats wird verfügt, dass »sämtliche Bäder und Wasserspülungen bei Klosettanlagen bis auf Widerruf außer Benützung gestellt werden«. Bei Nichtbefolgung droht die Stadtgemeinde mit Strafen von 20 Kronen, »eventuell Arreststrafen«. Die lokalen Zeitungen registrieren mit feinem Gespür: »Das Rundschreiben hat in Kreisen der Hausbesitzer und Mieter arg verschnupft.«

      Auch