Gerhard Jelinek

Schöne Tage 1914


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auftauchen. Er bejubelt mit Tausenden anderen am 2. August 1914 vor der Münchner Feldherrnhalle die Kriegserklärung Deutschlands an Russland. Auf dem Schwarzweiß-Bild ist der kleine, schmächtige 25-Jährige unscharf abgebildet, aber erkennbar. Zehn Jahre später wird er sich in seinem Buch Mein Kampf an diesen Tag erinnern (wollen): »Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus vollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.«18

      19. Jänner 1914 »Zwischen den Telephonabonnenten wurden gezählte 350 499 Lokalgespräche geführt«

      Die Grazer telefonieren wieder mehr. Im Jänner 1914 veröffentlicht die Grazer Telegraphen- und Telephonbehörde die Statistik über die vermittelten Gespräche. Zwischen den »Telephonabonnenten« wurden gezählte 350 499 Lokalgespräche geführt. »Im interurbanen Verkehr betrug die Anzahl der Gespräche 6638.«

      Im gleichen Zeitraum haben die Grazer Postbeamten 20 746 Telegramme zugestellt, während auf den Postämtern 19 014 Telegramme abgesetzt wurden. Wer wollte, konnte rasch kommunizieren, in Graz, Wien, Prag oder Brünn.

      In den großen Städten wurde die Post mehrmals pro Tag zugestellt und ganz eilige Sendungen sausten mit einer Geschwindigkeit von bis zu 50 Stundenkilometern durch kilometerlange Rohrpostleitungen. Wien verfügte 1914 schon über ein Netz von Rohrpostanlagen, das 53 Postämter verband und sich unter der Stadt auf über 83 Kilometern Länge erstreckte. Pro Tag beförderte das System des »pneumatischen Röhrennetzes« bis zu 20 000 Zylinder durch die Rohrleitungen. Die Technik nutzte einfache physikalische Gesetze. In den Endstellen des Rohrpost-Systems im Telegrafenamt am Wiener Börsenplatz oder in der Magdalenenstraße beim Naschmarkt wurde mit gewaltigen Pumpen die entsprechende Druckluft erzeugt. Das Wiener Parlament verfügte über eine hochmoderne Rohrpostanlage, die die Kommunikation zwischen den zwei Dutzend Parteien und Fraktionen – zumindest technisch – im Eilzugstempo ermöglichte.

      Die Staatskanzleien in Wien, Paris, Berlin und Moskau griffen hingegen im amtlichen Verkehr eher selten zum Telefon, sie verließen sich auf die Tradition der Depeschen und diplomatischen Berichte, die oft Tage unterwegs waren.

      23. Jänner 1914 »Es wird lebhaft«

      Am 23. Jänner wird im Wiener Gemeinderat über eine »Erhöhung der Zuwendungen an Bedienstete und Unterbeamte der städtischen Straßenbahnen« diskutiert. Die Neue Zeitung druckt das Wortprotokoll der Sitzung, die wie so häufig im Chaos endet. Die beiden Massenparteien Christlichsoziale und Sozialdemokraten bleiben einander nichts schuldig. Der sozialdemokratische Abgeordnete Gemeinderat Skaret kritisiert den Zeitpunkt der Gehaltserhöhung für die Straßenbahnschaffner: »Wenn man wüßte, was in Wien vorgehen würde, so glaube ich, müßte man aus dieser Vorlage wissen, es müssen doch irgendwelche Wahlen im Zuge sein, denn nur zur Zeit von Wahlen erleben wir in diesem Gemeinderate Besserstellungen der Bezüge der städtischen Bediensteten.«

      Kloßberg (Christlichsozialer): »Jetzt ist’s Ihnen auch nicht recht!«

      Skaret: »Sie sind ja seinerzeit ausgezogen, den kleinen Mann zu retten.«

      Kloßberg: »Gewiß!«

      Skaret: »Den kleinen Mann haben Sie dadurch, daß Sie gegen die Hinaufsetzung des Existenzminimums waren, vollkommen aufgegeben, und nun verlegen Sie sich auf die Rettung des Mittelstandes. Ich muß schon sagen, Sie haben ja die Rettung des Mittelstandes bis heute mit außerordentlichem Erfolg betrieben. Es fehlen Ihnen ja nur noch 40 Heller zur vollständigen Rettung. Und nun kommen Sie mit dieser Vorlage! Sie betreiben von einer Wahl zur anderen eine sogenannte 20 Heller-Politik.«

      Im Saale kommt Unruhe auf.

      Die Neue Zeitung fasst die Stimmung zusammen: »Es wird lebhaft.«

      Der christlichsoziale Gemeinderat Angermayer kann die Kritik des Sozialdemokraten nicht so stehen lassen. Er geht zum Gegenangriff über. »Ich begrüße die Vorlage, weil sie ja wieder ein Zeichen der sozialen Fürsorge der christlichsozialen Mehrheit ist. Sie ist natürlich wieder berufsmäßig kritisiert worden!« Der Redner wendet sich hierauf gegen die Sozialdemokraten, denen er vorwirft, die Mehrbelastung der Steuerschwachen auch in der Zukunft ermöglicht zu haben. »Sie haben Ihre Parteigrundsätze verraten.«

      Das Illustrierte unabhängige Tagblatt registriert nach dieser Wortmeldung »neuerlichen, sich immer steigenden Lärm und zahlreiche Zwischenrufe bei beiden Parteilagern. In dem allgemeinen Lärm, welcher im Saale herrscht, hört man wohl eine Masse Zwischenrufe, dieselben bleiben aber unverständlich.«

      Wien ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts die siebtgrößte Stadt der Welt. Die sozialen und nationalen Konflikte werden in diesem Schmelztiegel hochgekocht. Nach dem charismatischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der von politisch weit links kommend eine ebenso tatkräftige wie populistische und – wenn es opportun war – auch antisemitische Politik unter dem Beifall der Massen gestaltet hatte, stürzten die regierenden Christlichsozialen nach dem Tod des »schönen Karl« in eine schwere Parteikrise. Lueger hatte als unumschränkter Stadtkaiser Parteistrukturen und Parteiprogrammatik vernachlässigt. Er als Person war Programm genug. Lueger hatte die Reichs- und Residenzstadt durch die Phase stürmischen Wachstums und der Veränderung geführt und visionär gestaltet. Als Anwalt des gewerblichen Mittelstands hatte sich Karl Lueger eine satte Mehrheit gesichert. Wahlberechtigt waren freilich nur jene Wiener, die eine Mindeststeuerleistung erbrachten. Breite Schichten der wachsenden Arbeiterschaft konnten so nicht am politischen Prozess teilnehmen.

      Mit dem Magistratsbeamten Richard Weiskirchner amtierte nach Lueger ein wenig charismatischer Politiker im neugotischen Wiener Rathaus. Das Zentralorgan der Sozialdemokratie, die Arbeiter-Zeitung charakterisierte den politischen Gegner fast schon resignierend: »Er ist von einem nüchternen Ernst, einer ledernen Sachlichkeit, die den kleinen Mann von Wien kalt lassen, wenn nicht gar abstoßen.«

      Dennoch gelang es Bürgermeister Weiskirchner die christlichsoziale Partei in Wien zu stabilisieren. Beim zweiten Parteitag am Dreikönigstag des Jahres 1914 entwickelte der Lueger-Nachfolger Visionen für die kommenden Jahrzehnte. So kündigte Weiskirchner den Bau von »Untergrundbahnen« an, die mit internationalen Krediten finanziert werden sollte. Auch das Thema »Zentralbahnhof« beschäftigte vor gut hundert Jahren schon die Politik. Der Bürgermeister wollte eine »nördliche und südliche Hauptbahnhofgruppe unter Belassung eines großzügig ausgebauten Westbahnhofs als Alternative für einen in Wien unmöglichen Zentralbahnhof« bauen lassen.

      In der Hauptstadt der Habsburgermonarchie leben 1914 rund 2,2 Millionen Menschen. In den Jahrzehnten zuvor hat die Stadt eine unglaubliche Zuwanderung zu bewältigen. Die meisten Häuser der sogenannten »Gründerzeit« werden zwischen 1880 und 1914 errichtet. Sie bilden noch heute das Rückgrat der Versorgung Wiens mit Wohnraum. Obwohl damals seriell und nach rein kommerziellen Kriterien gebaut, prägen die Mietshäuser von damals das Stadtbild von heute.19

      25. Jänner 1914 »Das Beispiel eines bescheidenen und unauffälligen Lebens zu geben und Schaustellungen von Luxus zu vermeiden«

      Der New Yorker Stahlindustrielle und Milliardär Andrew Carnegie spricht über die Pflichten des Reichtums, und die Wiener Neue Freie Presse berichtet über die Aufnahme seines Credos auf einem sogenannten Kinetophon. Alvar Edison hat sich diesen Apparat, der erstmals synchronisierte Film- und Tonaufnahmen ermöglicht, patentieren lassen. Der reichste Mann der Welt ließ sich zu dieser Aufnahme überreden und posierte in New York für Edison und seine Maschine. Der Sohn eines bitterarmen schottischen Webers hatte es in Amerika zu unvorstellbarem Reichtum gebracht, seine Dollars aber auch in zahlreiche philanthropische Projekte investiert. Carnegie hielt für den Tonfilm-Aufnahmeapparat eine kurze Rede über die Pflicht des Reichtums: »Dieses halte ich für die Pflicht des Reichen: Erstens das Beispiel eines bescheidenen und unauffälligen Lebens zu geben und Schaustellungen von Luxus zu vermeiden. Zweitens für die berechtigten Ansprüche derer zu sorgen, die von ihm abhängen. Drittens die überflüssigen Einkünfte lediglich als anvertrautes Gut zu betrachten, das er nach bestem Wissen und Gewissen so verwalten