Gerhard Jelinek

Schöne Tage 1914


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größeren Katastrophen weitgehend verschont geblieben. Doch am 8. Jänner kommt es in den neuen Räumlichkeiten der Filmverleihfirma Gaumont zu einem Brand und zu mehreren schweren Explosionen. Das neue – zum Glück – noch nicht besiedelte Bürohaus zwischen der Mariahilferstraße und der Barnabitengasse wird schwer beschädigt, Fensterrahmen brennen und das Glas der Scheiben schmilzt in der Gluthitze. Das Feuer greift auch auf Nachbargrundstücke über und setzt dort Dachstühle in Brand. Bei der Katastrophe werden zwei junge Angestellte des Filmverleihs getötet. Die Mädchen atmen die giftigen Dämpfe brennender Filmrollen ein, stolpern auf der Flucht im Stiegenhaus, werden ohnmächtig und verbrennen hilflos.

      Die Brandursache war rasch gefunden. Die Leihfilme waren von einem 16-jährigen Mädchen im sogenannten »Putzraum« mit Benzin gereinigt worden. Dabei kam es zu einer Benzindampfexplosion. Die Flammen griffen auf das hochbrennbare Filmmaterial über. Das Feuer breitete sich übers Stiegenhaus bis zum Dachboden aus, wo Hausbesorgerin Anna Gruber gerade Wäscheleinen an den Dachbalken befestigte.

      Die Wiener Feuerwehr konnte den Brand nach Stunden löschen, danach stand das Wasser in den Räumlichkeiten »knietief«. Die Katastrophe ist das Tagesgespräch in der Hauptstadt. Die Neue Freie Presse zitiert Augenzeugen und schildert das Ereignis: »Man kann sich das Entsetzen vorstellen, das die Passanten der Mariahilferstraße befiel, als sie an den Fenstern des Hauses viele Personen um Hilfe rufend stehen sahen. Hätten die Gefährdeten versucht, über die Stiege zu entfliehen, sie wären sicherlich, wenn auch nicht alle, so doch viele, Todesopfer oder schwer verletzt worden, wie die beiden unglücklichen Frauen, die die Stichflammen auf der Stiege trafen. Die Feuerwehr ging unter dem Kommando des Branddirektors Jenisch mit Bravour vor, mitten durch die Rauchschwaden, die kaum atmen ließen, mitten durch die Flammen.«

      Kritischer als die liberale Neue Freie Presse kommentierte Die Neue Zeitung das Unglück: »Bei dieser Katastrophe liegt kein unvorhergesehener Unglücksfall vor, da riesengroß und drohend in Wien und anderwärts geschehene Präzedenzfälle als erschütternde Warnzeichen aus der Chronik der Schrecken auftauchen. Eine Filmniederlage mit hunderten, ja tausenden Metern explosionsgefährlicher Zelluloidstreifen gehört nicht in den ersten Stock eines Wohnhauses.«

      Mit dieser Einschätzung dürfte das Boulevardblatt durchaus nicht falsch gelegen sein.

      1914 hatte der Film bereits seinen Siegeszug angetreten, obwohl die Schauspieler stumm blieben und die Bilder in Schwarz und Weiß über die Leinwand flimmerten. Aber das Kino lockte auch tonlos eine wachsende Zahl von Menschen an. Immerhin hatte die französische Filmverleihfirma Gaumont schon im Herbst 1913 in den Wiener Sophiensälen unter dem Titel »Sprechender Film« erstmals mit Ton begleitete Filme präsentiert. Allerdings wurden diese Vorführungen bald wieder eingestellt. Es holperte bei der Synchronisierung von Sprache und Bild.7

      8. Jänner 1914 »Mit einem gewissen Anstand krepieren«

      »Heute schönes Schneetreiben.« Das Wetter spielt verrückt. War es am Vortag noch frühlingswarm gewesen, über Nacht ist es bitterkalt geworden. Wieder bleibt der Schnee in der Großstadt liegen. Den Wiener Rechtsprofessor Josef Redlich plagt ein Infekt. Durchfall, heftiges Erbrechen und Schüttelfrost. Dabei sollte der Gelehrte gerade jetzt voll »am Damm sein«. Redlich hofft, erwartet, kokettiert damit, in die Regierung berufen zu werden. Der Kaiser, draußen in Schönbrunn, so hört Redlich, wolle die Regierung des 55-jährigen Ministerpräsidenten Graf Karl Stürgkh entlassen.

       Wichtiger Zeuge seiner Zeit: Der Wiener Rechtsprofessor und Abgeordnete Josef Redlich spiegelt die Ereignisse des Jahres 1914 in seinem Tagebuch wider.

      Nichts geht mehr – im Winter des Jahres 1914. Im Reichsrat blockieren einander die Deutsch- und Tschechisch-Nationalen. Eine Reform der Einkommenssteuer und der Branntweinsteuer und der – ganz wichtig – Dienstpragmatik für die k. u. k. Beamten bleibt zwischen Reichsrat und Herrenhaus hängen. Stürgkh will das Parlament aushebeln. Er liebäugelt mit »Artikel 14«. Dieser würde der Regierung erlauben, mit Notstandsverordnungen ohne Einberufung von Reichsrat und Herrenhaus zu regieren. Der Jurist Redlich hält diese Pläne des österreichischen Regierungschefs für verfassungswidrig. Doch Graf Stürgkh wird sie Wochen später durchsetzen. Die Hocharistokratie und die Militärs halten ohnehin nichts von diesem demokratischen Gezänk im Parlament. Und irgendwie haben sich die Parteien an das Regieren mittels Notverordnung klammheimlich gewöhnt. Ohne Verantwortung tragen zu müssen, kann alle paar Jahre das Notwendigste erledigt werden. Der eigenen Klientel können die Politiker dann versichern, hätten sie nur dürfen, hätten sie die Maßnahmen verhindert, aber leider …

      Josef Redlich, dessen Tagebücher einen großen Wert als Quelle haben, kopiert einen Brief Ottokar Graf Czernins und bewahrt ihn so für die Nachwelt. Czernin sollte 1916, nach dem Tod Kaiser Franz Josephs, von dessen Nachfolger Kaiser Karl I. zum Außenminister ernannt werden und seinen jungen Monarchen ein Jahr später in der sogenannten »Sixtus-Affäre« bloßstellen.

      Graf Czernin machte sich schon 1913/14 keine Illusionen über den Zustand der Monarchie, ihrer Beamten, ihrer Militärs und ihrer Volksvertreter: »Nein, lieber Freund, eine solche korrupte, degenerierte, verluderte Bagage kann sich nicht selbst retten. Man schaffe eine Zeit des Absolutismus mit den großen Härten und Unannehmlichkeiten, damit sich das Volk wieder erfängt, nach einem Parlament und einer Kontrolle zu sehnen. (Denn unser Beamtenstand, absolut regierend, wäre etwas Schauderhaftes!) Vielleicht geht es dann, wahrscheinlich aber auch nicht, es ist schon alles zerfahren und verfault in unserem Staate. Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig, als mit einem gewissen Anstand zu krepieren. Du siehst, ich bin kein Optimist, aber ich finde, man soll auch bei einer verlorenen Schlacht bis zum Ende kämpfen, denn besser ehrlich kämpfend fallen, als feige den Kampf aufgeben.«

      Solcher Art ist die Stimmung der herrschenden politischen Elite.8

      10. Jänner 1914 »Immer feste druff!«

      Die Öffentlichkeit im Deutschen Reich blickt nach Strassburg. Dort fällt an diesem Tag ein Militärgericht das endgültige Urteil in der sogenannten »Zabern-Affäre«. Der 20-jährige Leutnant Günter Freiherr von Forstner hat im Oktober des Vorjahres seinen Rekruten in der elsässischen Stadt Zabern eine Prämie von zehn Mark für jeden niedergestochenen »Wackes« versprochen.

      »Wackes« galt als beleidigende Bezeichnung für einen Elsässer. Der Gebrauch des diskriminierenden Wortes war per Armeebefehl in der seit 1871 annektierten Provinz Elsass-Lothringen verboten. Die deutschen Soldaten wurden von einer Mehrheit als Besatzung empfunden und so benahmen sich auch viele Offiziere. Die dumme Beschimpfung der Bevölkerung wurde von den lokalen Zeitungen publik gemacht. Der junge Leutnant erhielt Rückendeckung seiner Vorgesetzten, er wurde nicht strafversetzt, obwohl er gegen das Militär-Reglement verstoßen hatte. Die »Ehre des Militärs« kam ins Spiel. Der Leutnant wurde zum Hassobjekt der lokalen Bevölkerung und zur Zielscheibe des Spottes. Rückten deutsche Soldaten aus der Kaserne aus, wurden sie beschimpft und der junge Leutnant als »Bettnässer« verhöhnt. Die Wellen der lokalen Affäre schwappten bis nach Berlin und wurden von den politischen Parteien im bürgerlichen und linken Spektrum – je nach ideologischer Befindlichkeit – gehörig aufgeschaukelt.

      Das deutsche Militär bewies in Zabern ähnliches Feingefühl wie Kronprinz Wilhelm. Der Hohenzollern-Spross kommentierte die Eskalation in der annektierten Provinz telegrafisch mit dem Satz: »Immer feste druff!« Der örtliche Regimentskommandeur Oberst Adolf von Reuter nahm die Order des Kronprinzen wörtlich. Er ließ friedlich protestierende Elsässer festnehmen und überschritt damit seine Kompetenzen – für die Aufrechterhaltung des inneren Friedens war die örtliche Zivilverwaltung, nicht aber das Heer zuständig. Der preußische Oberst griff gar zum Säbel und schlug damit einen Schustergesellen nieder, der ihn verspottet hatte.

      Adolf von Reuter rechtfertigte sich mit »Notwehr«, Pech allerdings, dass der heldenhaft niedergestreckte Schuster einen Klumpfuß hatte und kaum gehen konnte. Die klaffende Fleischwunde schwärte und eiterte zu einer Staatsaffäre aus. Im Kern ging es um die Frage: Wer regiert im Deutschen Reich? Gewählte Volksvertreter oder die militärische Elite?

      Die