Gerhard Jelinek

Schöne Tage 1914


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Netz, dampft nach Osten, schmuggelt sich durch die verminte Meerenge der Dardanellen und kann sich nach Konstantinopel retten. Dort tauscht Wilhelm Souchon die deutsche Kriegsflagge mit der türkischen. Als »türkisches« Schiff, unter dem Namen Yavuz Sultan Selim, trägt die Goeben den Krieg ins Schwarze Meer und vernichtet praktisch die gesamte Kriegsflotte des Zarenreichs im Alleingang.

       Der deutsche Panzerkreuzer Goeben beim Flottenbesuch in italienischen Gewässern

      Russland war durch diese Husarenaktion der Zugang zum Mittelmeer blockiert. Ein Panzerkreuzer schrieb Weltgeschichte: Die Alliierten, vor allem australische und neuseeländische Soldaten, versuchten im Verlauf des zweiten Kriegsjahres bei Gallipoli (Dardanellen) zu landen und die deutsch-türkische Sperre der Meerenge zu beseitigen. Bei diesem schlecht vorbereiteten militärischen Abenteuer starben rund 250 000 Engländer und Franzosen.

      Im Jänner 1914 ahnten die Offiziere und Matrosen an Bord der Goeben im malerischen Syrakus an der sizilianischen Küste noch nichts von ihrer historischen Bedeutung. Der Panzerkreuzer überstand den gesamten Seekrieg und wurde erst ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende in der Türkei versteigert, zum Schrottwert.13

      15. Jänner 1914 »Kaufmännischer Ehrgeiz«

      Mitte Jänner 1914 erscheint Die Fackel von Karl Kraus in einer Doppelnummer um 60 Heller. Der Journalist, Moralist und Satiriker ahnt noch nicht, dass er gerade die »letzten Tage der Menschheit« durchlebt, und reibt sich an Schriftstellerkollegen. In der ersten Fackel des kommenden Kriegsjahres echauffiert sich Herr Kraus über die filmischen Ambitionen Hugo von Hofmannsthals unter dem Titel »Ein Verlorener«: »Der Dichter des Jedermann hat seine Kunst in den Dienst des Films gestellt. Bedarf es noch eines stärkeren Beweises, daß das Kino literarischen Ehrgeiz hat und daß es Autoren findet, die es braucht, um seinem Ehrgeiz gerecht zu werden? O ja, es bedarf noch eines stärkeren Beweises. Denn daß Herr v. Hofmannsthal seine Kunst in einen Dienst gestellt hat, und zwar in den des Films, beweist nicht, daß das Kino literarischen, sondern daß Herr v. Hofmannsthal kaufmännischen Ehrgeiz hat. Da das Werk von Herrn von Hofmannsthal tief unter dem literarischen Niveau des Kinos steht, dürfte auch dieser Ehrgeiz nicht befriedigt werden.«

      Karl Kraus urteilt gnadenlos. Der konservative, durch und durch monarchistisch gesinnte Dichter Hugo von Hofmannsthal bietet dem Zyniker Kraus viele Angriffsflächen. Die alte, übernationale Habsburgermonarchie scheint Hofmannsthal als Erfüllung einer gesellschaftlichen Utopie. Hofmannsthals literarische Anknüpfungen an mittelalterliche Traditionen beflügeln Karl Kraus in seinem Spott.

      Doch im Gegensatz zur damaligen Einschätzung in der Fackel überlebte das 1911 geschriebene Mysterienspiel vom »reichen Mann« zwei Weltkriege und wird noch heute Jahr für Jahr in Salzburg aufgeführt. In Zusammenarbeit mit dem Komponisten Richard Strauss (Elektra) schrieb Hugo von Hofmannsthal auch Musikgeschichte.

      Karl Kraus scheint das neue Medium Film ein wenig unterschätzt zu haben. Denn der Kritiker verspottet in der gleichen Fackel-Ausgabe den Schriftsteller Arthur Schnitzler. Dieser hatte die Verfilmung seines dreiaktigen Theaterstücks Liebelei an die Bedingung geknüpft, es dürfe keine Untertitel geben und es dürften im Film keine Briefe vorkommen. Schnitzlers Motive hatten freilich kaum etwas mit »reiner Kunst« zu tun – wie dies Kraus spöttisch unterstellt –, sondern mit dem simplen Faktum, dass die erste Verfilmung der Liebelei als dänischer Stummfilm mit dem Titel Elskovsleg in die Wiener Lichtspieltheater kommen sollte. Mit dänischen Untertiteln hätten die Wiener wohl nichts anfangen können.14

      16. Jänner 1914 »In überaus animierter Weise«

      Die Neue Freie Presse berichtet: »Der Chef des Generalstabs Freiherr Conrad v. Hötzendorf wurde heute vormittags von ½ 11 bis ½ 12 Uhr vom Kaiser in Privataudienz empfangen.«

      Worüber die beiden Herren am Beginn des Jahres sprachen, das berichtet die Zeitung nicht. Wohl aber erfährt der interessierte Leser, dass der »Eisenbahnball« in den Wiener Konzerthaussälen sein vierzigstes Jubiläum feierte und dies in »überaus animierter Weise«. Zahlreiche Minister waren erschienen. Um halb zehn Uhr traf Erzherzog Leopold Salvator im Vestibül ein und wurde unter den Klängen der Volkshymne auf die Estrade geführt. Von seiner erhöhten Position aus bot sich dem Habsburger ein charmantes Bild. Die weiß und rosa gekleideten Damen des Eröffnungskomitees »konstruierten« eine Vierzig, ehe der Ball mit dem Eröffnungswalzer seinen animierten Verlauf nahm.15

      17. Jänner 1914 »Ein schwimmender Hort des Friedens«

      »Gleite in dein Element und der Allmächtige soll dich auf all deinen Wegen beschützen.« An einem kalten, regnerischen Sonntag drückte Erzherzogin Maria Theresia in der Danubia-Werft bei Fiume eine elektrische Taste und startete damit die hydraulische Maschine, die den Stapellauf des größten österreichisch-ungarischen Schlachtschiffs Szent Istvan in Gang setzte. Marinekommandant Anton Haus schrieb in sein Tagebuch: »Es dauert vier bis fünf Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, endlich setzt sich das Schiff unter dem Jubel der Zuschauer in Bewegung und gleitet in Rauch gehüllt ins Wasser.«

      Das mächtige Schiff war in knapp zweijähriger Bauzeit von einer ungarischen Werft gebaut worden. Die Szent Istvan komplettierte das Quartett der k. u. k. Schlachtschiffe, die das Rückgrat der Marine bilden sollten. Die Szent Istvan war eines der größten Panzerschiffe ihrer Zeit, ein »Dreadnaught«, unbesiegbar, eine schwimmende Festung: eineinhalb mal so lang wie ein Fußballfeld.

      Auf Kiel gelegt wurde die Szent Istvan am 29. Januar 1912. Das größte je auf einer ungarischen Werft gebaute Schiff sollte als Leistungsbeweis der ungarischen Industrie dienen, ein Symbol für die Gleichwertigkeit der ungarischen Reichshälfte, benannt nach dem ungarischen Nationalheiligen, dem hl. Stephan. Es war ein »nationalistisches Projekt«, ein politisches Zugeständnis. Die Wiener Neue Freie Presse schrieb am 16. Jänner: »Die Erbauung eines so mächtigen Schiffes ist ein Prüfstein für die industrielle Leistungsfähigkeit des Ursprungslandes. Ungarn kann stolz sein auf diesen Erfolg. Mit ihm freut sich auch Österreich. Für unsere wackere Kriegsmarine wird der morgige Tag ein Festtag besonderer Art sein, denn an ihm wird die Viribus unitis-Division zum ersten Mal vollzählig in der blauen Adria schwimmen.«

       Stapellauf der Szent Istvan auf der Danubia-Werft bei Fiume: Ein »schwimmender Hort des Friedens«

      Der Stapellauf im kalten Jänner markierte das Finale eines unsinniges Projekts – aus vielerlei Gründen. Der ungarischen Danubius-Werft fehlte die Erfahrung zum Bau eines Schlachtschiffes. Das Konzept, möglichst große Schlachtschiffe zu bauen und viel Geld in die Marine zu investieren, war dem Untergang geweiht. Die k. u. k. Kriegsmarine blieb dann während des gesamten Weltkrieges in den geschützten Adria-Häfen liegen, denn ein Auslaufen aus der engen Adria ins Mittelmeer wurde durch die alliierte Blockade der nur knapp 80 Kilometer breiten Straße von Otranto mit Minen und Stahlnetzen verhindert. Die stolze k. u. k. Marine saß in der Falle. Es wäre wohl zu gefährlich gewesen, die sündteuren Schlachtschiffe in einen Kampf mit überlegenen Flotten zu navigieren. Auch die italienische Flotte vermied eine Entscheidungsschlacht mit der k. u. k. Marine und hielt sich von der Adria fern. Die Szent Istvan war gezählte 937 Tage im Dienst, dümpelte aber fast die ganze Zeit nur an ihrer Boje in Pola. Die seltenen Ausfahrten dauerten kaum länger als eine Stunde und dienten nur für Schießübungen. Die Besatzung hatte also kaum Erfahrung auf See.

      Die Szent Istvan wurde dann auch bei der ersten geplanten Feindfahrt am 8. Juni 1918 von zwei italienischen Torpedos versenkt. Die Sprengsätze schlugen gerade an der schwächsten Stelle des Schiffes ein, dem Maschinenraum. Dort hatte man bei der Konstruktion – entgegen deutschen Ratschlägen – an der Panzerung gespart.

      Dabei hatten sich auf das stattliche Schlachtschiff zahlreiche Hoffnungen und Erwartungen der Monarchie konzentriert. Es kam anders: Die Filmsequenz