steht sie dicht vor ihm. Sie spürt seinen Atem, der sie wie ein Hauch streift.
»Lügen Sie nicht, Doktor Freytag.« Sie ist ein mutiger Mensch, aber jetzt hat sie vor Freytag etwas wie Angst. Das Funkeln seiner Augen irritiert sie. »Sie sehen wie das leibhaftige schlechte Gewissen aus. Außerdem müssen Sie sich eine dümmere Person suchen. Sie kamen in einem ziemlich mitgenommenen Zustand zu mir, und wenige Minuten später waren Sie der alte. Ich bin lange genug Krankenschwester, um zu wissen, daß Sie.«
Im nächsten Augenblick fühlt sie sich umschlungen. Ein heißer Mund preßt sich auf ihre Lippen, daß sie kaum Atem zu holen vermag.
Endlich gelingt es ihr, sich freizumachen. Schweratmend sieht sie ihn an.
»Das war gemein.« Es klingt wie ein Schluchzen. »Bilden Sie sich nicht ein, daß Sie so leichtes Spiel mit mir haben, wie mit der Oberschwester.«
»Anita!« Abermals küßt er sie. So schnell kommt dieser Überfall, daß sie sich nicht wehren kann. »Sie sind hinter mein Geheimnis gekommen, gut, dagegen kann ich nichts unternehmen. Aber ich will auch gar nicht mit Ihnen streiten, Anita. Sie gefallen mir, Sie gefallen mir sogar sehr. Bitte –« und jetzt legt er Lockung und Werbung in seinen Ton. Dabei strömt es ihm warm zum Herzen. Es ist ein Gefühl, das er noch bei keiner Frau erlebt hat. »Wollen wir heute abend zusammen ausgehen? Ich hole Sie ab. Wir werden uns einmal außerdienstlich unterhalten und fröhlich sein. Immer nur Krankenhausluft stumpft langsam ab. Oder ?«
»Ja«, haucht sie, völlig willenlos. Noch einmal erhebt sich mahnend ihr Gewissen. »Und Oberschwester Magda?«
Er preßt sie fester an sich und spürt, wie sie sich nicht mehr wehrt. Er wird ungewöhnlich ernst. »Das ist etwas ganz anderes, Anita, Kleines. Das werden Sie kaum verstehen.«
»Sie irren, Doktor Freytag«, entgegnet sie in einem Anfall von Trotz und Auflehnung. »Ich verstehe alles und glaube auch alles zu wissen.«
»Still«, flüstert er. »Es kommt jemand. Schnell, sagen Sie mir, wo ich Sie abholen darf.«
Sie nennt ihm hastig Straße und Hausnummer, und wenige Minuten später eilt sie den Gang entlang ihrer Station zu.
Ich werde nicht mit ihm ausgehenhämmert sie sich ein – ganz bestimmt nicht. Wenn er mich abholen kommt, werde ich ihm nicht öffnen. Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bin kein willenloses Werkzeug wie Oberschwester Magda.
*
Martha hat die Tafel abgeräumt, hat Gläser und eine Flasche auf den Tisch gestellt und ist leise wieder verschwunden.
Bedächtig gießt Dr. Sanders die Gläser voll. »Sie gefallen mir, Doktor Romberg«, sagt er unvermittelt, »und wenn Sie dazu noch so tüchtig sind, wie meine Tochter mir erzählte«, ein schneller, liebevoller Blick trifft die still zuhörende Sybilla, »dann wäre ich glücklich, in Ihnen meinen Nachfolger gefunden zu haben.«
Überrascht hebt Romberg den Kopf. Er empfindet für den alten Herrn, dessen Geradlinigkeit ihn geradezu verblüfft, große Sympathie. Und doch muß er ihn enttäuschen.
»Es tut mir leid, lieber Herr Doktor«, sagt er mit Wärme. »Aber ich denke nicht daran, zu kapitulieren. Sie scheinen über meinen augenblicklichen schweren Stand im Krankenhaus unterrichtet zu sein. Ich weiche nicht. Ganz einfach deshalb nicht, weil ich mir keiner Schuld bewußt bin.« Romberg sieht von einem zum anderen und setzt härter als beabsichtigt hinzu: »Außerdem eigne ich mich nicht zum Protektionskind.«
Er bemerkt, wie Sybilla erblaßt und ihrem Vater einen hilfeflehenden Blick zuwirft.
»Na, na, na«, beschwichtigt er. »So ist das keinesfalls gemeint, lieber Romberg. Ich habe längst gemerkt, daß Sie eine Persönlichkeit sind, und mit Protektion hat das gar nichts zu tun. Da brauchte ich ja nur meine Tochter in die Praxis zu setzen .«
»Und weshalb tun Sie es nicht?« fällt Romberg ihm schnell ins Wort und bringt Sanders damit in einige Verlegenheit.
»Sie will nicht«, gibt er ehrlich zu. »Sie meint, sie könne im Krankenhaus mehr lernen als hier auf dem Lande. Nun, darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich jedenfalls habe mich jederzeit sehr wohl gefühlt und glaube behaupten zu können, daß ich meinen Beruf nicht weniger liebe als Sie.«
»Ich kann nicht – und ich will nicht«, sagt Romberg abschließend.
»Schön, ich nehme es zur Kenntnis«, erwidert Sanders und hebt sein Glas gegen das Licht. Er blinzelt ein wenig dabei. »Zufällig kenne ich Professor Becker sehr gut. Unbegreiflich, wie er den jungen Freytag derart beschützt .«
Interessiert beugt Romberg sich vor. »Sie kennen auch Doktor Freytag?«
»Und ob«, bestätigt er ernsthaft. »Er mag in seinem Beruf etwas leisten, das kann ich nicht beurteilen. Sonst aber ist er ein unangenehmer Bursche. Ich weiß nicht«, Doktor Sanders zögert, leert sein Glas und setzt es behutsam auf die Glasplatte zurück, »etwas ist mit ihm nicht in Ordnung.«
»Ich verstehe nicht«, wirft Romberg, hellhörig geworden, dazwischen. »Was soll mit ihm nicht in Ordnung sein?«
Doktor Sanders lächelt. Es ist ein Lächeln, in dem sich alle Erfahrungen eines Menschenlebens zu spiegeln scheinen.
»Sie sind ein tüchtiger Arzt«, erklärt er in seiner bedächtigen Art. »Sie kennen nur Ihren Beruf. Nehmen Sie sich auch die Zeit, die Menschen zu erforschen, die neben und mit Ihnen arbeiten?«
»Sie sagen selbst, mir bleibt keine Zeit.«
»Die sollten Sie sich aber nehmen. Es würde sich lohnen.« Er seufzt und sieht Romberg offen an. »Schade, lieber Romberg, daß Sie so dickfellig sind. Ich hätte Sie gern als meinen Nachfolger gesehen.«
»Doktor Romberg wird es sich überlegen«, mischt Sybilla sich erneut ins Gespräch. Sie blickt auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Jetzt müssen wir dich verlassen, Papa. Unser Dienst beginnt Punkt zwanzig Uhr.«
Doktor Sanders begleitet seine Besucher bis zum Wagen. Schade, denkt er bedauernd, sie gäben ein großartiges Paar ab. Aber der Mann scheint wirklich nur seine Arbeit zu ken-
nen.
*
Als Romberg seine Wohnung betritt, bleibt er wie angewurzelt in der Tür stehen. In einem der tiefen Sessel lehnt Christiana, graziös, die schlanken Beine übereinandergeschlagen.
»Du hier?« preßt er unangenehm berührt hervor. »Was willst du von mir?«
Ihr Lächeln wird spöttisch. »Ich bin sozusagen in höherem Auftrag hier. Meine Mutter schickt mich. Sie ist der Meinung, ich sei dir Dank schuldig, ich und auch Martin.«
Er macht eine herrische Handbewegung. »Ich kann mich nicht erinnern, etwas getan zu haben, wofür ihr mir danken müßtet. Überdies möchte ich von der ganzen Angelegenheit nichts mehr hören.«
»Aber du hast uns doch nun einmal geholfen«, beharrt sie mit aller Hartnäckigkeit, die er zur Genüge an ihr kennt.
Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Leider muß ich dich bitten, mich zu verlassen. Mein Dienst beginnt um zwanzig Uhr. Ich habe mich verspätet und muß mich noch umziehen.«
Das ist ein glatter Hinauswurf, denkt sie, und sie erblaßt.
»Und wenn ich dich nun bitte, mir wenigstens auf eine Zigarettenlänge zuzuhören?« Das klingt beinahe de-mütig.
Abermals ein Blick auf seine Uhr. Er seufzt ein wenig und setzt sich ihr gegenüber. Er reicht ihr die Zigarettendose.
»Gut, auf ein paar Minuten kommt es nicht an«, entscheidet er und gibt ihr und sich Feuer. »Was hast du mir zu sagen?«
»Hast du – Angst vor mir?« Unter langen, dunklen Wimpern trifft ihn ein werbender Blick.
»Nein!«
»Das glaube ich nicht, Wolf.« Sie zögert und schießt dann ihren Pfeil ab, der ihn verwunden soll. »Ich erinnere dich nur an den plötzlichen Tod meines Mannes.«
Ihm