hatte er ausgerechnet diesen Weg gehen müssen? Dann wäre er nicht Zeuge dieser Unterredung zwischen Reimer, den sie alle verachtet hatten, und seiner Braut geworden. Angela, die für ihn der Inbegriff aller Reinheit gewesen war, hatte Abschied von dem Mann genommen, zu dem sie früher Beziehungen unterhalten hatte. Sie hatte sich Liebling nennen lassen, ohne sich dagegen aufzulehnen, und er – er hatte felsenfest an ihre Liebe geglaubt!
Sogar von einer Versorgung hatte dieser verhaßte Kerl gesprochen, und er, Heykens, sich das ruhig angehört! Warum war er nicht aus seinem Versteck hervorgesprungen und hatte dem andern die Faust ins Gesicht geschmettert?
Sich an einem hilflosen Menschen vergreifen? An einem Genesenden, der sich nicht zur Wehr setzen konnte? Nein, das tat ein Heykens nicht!
Aus seiner Brusttasche holte er die Karte hervor, die er aus Angelas Handtasche genommen hatte, und las sie wohl zum hundertsten Mal. Und immer wieder hatte er die gleichen Qualen.
Er setzte sich, um ein paar Zeilen an Angela zu richten. Wenigstens wissen sollte sie, daß er ihr falsches Spiel durchschaut hatte und daß alles – alles aus war zwischen ihnen.
»Angela!
Ungewollt mußte ich heute Zeuge eines Gesprächs zwischen Dir und Deinem früheren Liebhaber werden. Seine zärtliche Anrede, die Du wortlos duldetest, die ganze Vertrautheit, mit der dieser Reimer Dich behandelte, genügen mir, um hiermit unser Verlöbnis zu lösen. Den letzten Beweis aber lieferte mir der Brief, den dieser Bursche Dir am Tage der Bekanntgabe unserer Verlobung zusteckte und von dem Du Dich so schwer trennen konntest.
Es tut mir leid, daß ich mich an Deinem Eigentum vergriffen habe, aber ich mußte diesen letzten Beweis mit eigenen Augen sehen, damit mir Deine ganze Erbärmlichkeit und Verlogenheit voll zum Bewußtsein kam.
Zu einer letzten Aussprache, die zwar nichts an meinem Entschluß ändert, erwarte mich heute abend bei Deiner Mutter. Ihr will ich Rede und Antwort stehen.
Peter.«
Ohne den Brief noch einmal durchzulesen, schob er ihn in einen Umschlag und schrieb mit seiner steilen, festen Handschrift darauf:
»Angela!«
Dann machte er sich zum Ausgehen fertig.
Jetzt kam das Schwerste – unbefangen gegen Angela zu sein, um einer Szene zu entgehen, die ihn nur anwidern würde.
Angela sah von ihrer Arbeit auf, und ein liebliches Lächeln überzog ihre Züge, als sie ihn erblickte.
Er sah an ihr vorbei, als er erklärte:
»Ich muß fort. Bitte, erwarte mich wie immer heute abend, Wiedersehen!«
Angela, die in aufquellender Zärtlichkeit beide Arme um seinen Hals legen wollte, verharrte wie gelähmt. Schlaff sanken ihre Arme herab.
»Peter!« kam es stockend von ihren Lippen, aber da schloß sich schon die Tür hinter der geliebten Gestalt.
Was war nur geschehen? Natürlich hing das nur mit Peters Dienst zusammen! Oder Überarbeitung? Hatte er einen Mißerfolg gehabt mit dem neuen Heilverfahren? Aber dann war sie doch die erste, der er sich anvertrauen mußte! Sie hätte ihm so gern die Last tragen helfen, die er mit sich schleppte. Wenn er sich doch nur helfen lassen wollte!
Früher als sonst verließ sie ihren Arbeitsplatz. Sie war einfach nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles lief in einem Punkt zusammen.
Peter – und sein unverständliches Benehmen.
Sie fühlte sich an allen Gliedern wie zerschlagen, als sie den Kiesweg zu ihrem Haus zurücklegte.
Peter kam ja bald, dachte sie, während sie mit schleppenden Schritten die vier Stufen zum Eingang emporstieg.
Peter mußte gewiß erst mit sich ins reine kommen. Sie wollte sehr gut zu ihm sein, ganz gleich, was es war, das ihn zu Boden drückte.
Zuerst ging sie auf die Suche nach der Mutter, und etwas wie Mitleid beschlich sie. Nun mußte sie die Mutter wieder mit neuem Herzeleid belasten. Arme Mutter! Aber wer hatte sie sonst, gegen den sie rückhaltlos offen sein konnte?
Frau Bettina saß an ihrem Schreibtisch, als Angela bei ihr eintrat.
Im Hause herrschte eine sonst ungewöhnliche Stille, da Klaus’ Kinderlachen nicht als Echo von den Wänden hallte.
Gretchen war mit dem Jungen spazierengegangen, und Lene hatte Ausgang. Dr. Hersfeld befand sich noch auf einer Reise.
Still setzte sich Angela der Mutter gegenüber.
Jetzt klappte Bettina das Wirtschaftsbuch zu und griff zu dem Brief, den Dr. Heykens’ Chauffeur vor einer Stunde bei ihr abgegeben hatte.
Ehe sie ihn Angela reichte, fragte sie:
»Kommt Peter heute?«
Angela nickte. Bettina hob das Gesicht ihres Mädels zu sich auf.
»Hat es etwas gegeben zwischen dir und Peter?« fragte sie.
Angela konnte nur den Kopf schütteln.
»Nein, Mutti, nur – Peter war heute so merkwürdig.«
»Vielleicht gibt dieser Brief dir Aufklärung?« Ihre Stimme war voll Behutsamkeit. »Männer sind manchmal sehr unbeholfen und wählen den umständlichsten Weg.«
Hastig öffnete Angela den Brief – und daraus flog ihr Reimers merkwürdiger Glückwunsch entgegen. Noch ehe sie auch nur ein Wort des Briefes zu lesen vermochte, stieß sie einen grellen Schrei aus.
»Die Karte – Mutti – gütiger Himmel, Reimers zweideutige Karte – hat sich in Peters Händen – befunden…«
Bettina bückte sich, um die Karte aufzuheben.
Barmherziger Gott! Wenn es Reimer tatsächlich gelungen wäre, Angelas junges Liebesglück zu zerstören?
Mit innerem Grauen griff sie zu dem Brief, der ihr Kind so schwer getroffen hatte.
Ihre Augen irrten über die charakterfeste Schrift Dr. Heykens’. Sie fror plötzlich. Bis ins Herz hinein fror sie vor der Kühle, die aus den Worten Peter Heykens’ wehte und die auch ihr Kind wie ein Dolchstoß mitten ins Herz getroffen hatte.
»Mutter!« Angela schlang haltsuchend die Arme um Bettinas Hals. »Daß ich dir das nicht ersparen kann, daß ich dir immer neue Sorgen aufbürden muß!«
Bettina löste Angelas Arme von ihrem Hals und half ihr beim Aufstehen. Grenzenlos erstaunt sah sie in die angstvollen Augen ihres Kindes.
»Suchst du die Schuld bei dir, liebes Kind? Dann laß dir gesagt sein, daß du mich noch keine Stunde betrübt hast. Alles Leid, das über dich und mich hereinbrach, wurde immer nur von Reimer verursacht.«
Bettinas Hand fuhr liebkosend über Angelas Scheitel. Ihr Blick war ins Leere gerichtet.
Wenn nun Peter Heykens nicht kam! Mein Gott, dann lag eine unendlich lange Nacht voller Qual vor Angela! Nein, nur das nicht, nur nicht länger in dieser zermarternden Ungewißheit sein müssen!
Durch das geöffnete Fenster drang das Brummen eines herannahenden Wagens, und da sprang schon Angela mit einem hellen Schrei in die Höhe.
»Reimer kommt, Mutti! – Das – das ist ja kaum glaubhaft! Will er sich an meinem Unglück – weiden?«
Bettina fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen drängte. Langsam stand sie auf, wankte ein wenig und hatte sich wieder in der Gewalt.
Aus starren Augen sah sie hinunter auf den Mann, der ihr und ihres Kindes Leben vergiftet hatte und der, auf den Stock gestützt, das Grundstück betrat.
Angelas Augen waren vor Entsetzen weit und unnatürlich groß.
In jäh aufsteigender Sorge schlang sie beide Arme um Bettinas Schultern und bat erstickt:
»Laß mich hinuntergehen, Mutti, ich bitte dich recht sehr! Mein Glück hat er zerstört, und nun will ich auch die Genugtuung