Tat geschehen sein, denn ich fand Frau Martens noch ohnmächtig neben ihrer Tochter Angela, die ebenfalls besinnungslos war.«
Der Vorsitzende blätterte in dem vor ihm liegenden Aktenstück.
»Sie kannten Udo Reimer.«
»Ja, ich habe ihn kennengelernt, und zwar zweimal in einer Situation, die mir diesen Mann sofort verabscheuungswürdig machte. Das erstemal bei einem schweren Autounfall, das zweitemal vor Gericht.«
Und nun schilderte Dr. Hersfeld lebhaft jenen Autounfall in der Nacht, da Volker Brandt unter seinen Händen verbluten mußte, weil sich Reimer geweigert hatte, Hilfe herbeizuholen. Er schloß mit den bewegten Worten:
»Damals lernte ich Frau Martens kennen, die schon ihren Mädchennamen wieder tragen durfte. Volker Brandt war der Mann gewesen, mit der Frau Bettina ein zweites Glück eingehen wollte. Durch Reimers leichtfertiges und kaltblütiges Handeln starb der Mann, dem sie sich anverlobt hatte.
Durch meine spätere Frau hörte ich dann von dem tragischen Geschick Frau Martens’, deren Lebensweg unmer wieder mit dem ihres geschiedenen Mannes zusammenstieß. Und wo er auftauchte, da brachte er Frau Martens Unglück und Herzeleid.«
Entrüstungsrufe aus dem Zuschauerraum wurden laut, die dem Verhalten des Toten galten. Sie schwiegen sofort, als der Vorsitzende weiterforschte:
»Können Sie sich erinnern, daß Frau Martens vielleicht schon damals den Gedanken aussprach, Reimer töten zu wollen? Es ist doch immerhin für eine Frau erschütternd, wenn sie ihr Glück durch einen Mann zerstört sieht, den sie als wertlos erkannt hat.«
Dr. Hersfeld schüttelte den Kopf und schaute mit einem bewundernden Blick zu Frau Bettina hinüber, die zusammengesunken in ihrer Bank saß.
»Nein!« erwiderte Hersfeld laut. »Frau Martens war vor Schmerz wie erstarrt, weder einen Rachegedanken noch sonst eine Schmähung sprach sie gegen ihren geschiedenen Mann aus. Im Leiden war sie unsagbar geduldig. Nur einmal habe ich etwas wie wilde Entschlossenheit in Frau Bettinas Augen aufleuchten sehen, das war damals, als Angela todkrank, vom eigenen Vater bis an den Rand der Verzweiflung gehetzt, zu Frau Bettinas Füßen zusammenbrach.«
Interessiert neigte sich der Vorsitzende vor, und über dem Zuschauerraum lagerte wieder atemlose, gespannte Stille.
»Erzählen Sie, was Sie davon wissen«, wurde Dr. Hersfeld aufgefordert, und er begann mit warmen, bewegten Worten zu schildern, was er von den Vorgängen wußte, die sich seinerzeit auf dem Gymnasium abgespielt hatten. Er schloß:
»In diesen qualvollen Nächten, die wir, Frau Martens und ich, an dem Bett des schwerkranken Mädchens verbrachten, und in denen wir meinten, jede Minute könnte das junge Menschenleben verlöschen, erkannte ich erst die Größe der Mutterliebe dieses Frauenherzens. Ich war überzeugt, daß auch das Leben dieser Frau vernichtet war, wenn es uns nicht gelingen sollte, die Tochter zu retten. In der Entscheidungsnacht, da Frau Martens nur noch einem Schatten ihrer selbst glich und förmlich mit dem Tod um das Leben ihres Kindes rang, kam mir zum ersten Male der Gedanke: Wenn Angela stirbt, wird Bettina furchtbare Rache an dem Mann nehmen, der das ganze Unglück verschuldet hat – und keiner könnte die Frau verurteilen, denn man muß erlebt haben, so wie ich in den langen, bangen Nächten, wie sehr die Frau um ihr Kind litt.«
Dr. Hersfeld hatte so anschaulich die Not und Verzweiflung Frau Bettinas geschildert, daß manche Mutter, die unter den Zuschauern saß, davon bis ins Herz aufgewühlt wurde.
»Ich danke Ihnen«, sagte der Vorsitzende sichtlich bewegt, und Dr. Hersfeld nahm auf der Zeugenbank Platz.
Er hatte das Gefühl, daß seine Worte leer und ungeschickt gesetzt waren, denn niemals würde er das in die rechten Worte fassen können, was er in jenen furchtbaren Nächten mit Frau Bettina erlebt hatte.
Der Vorsitzende flüsterte mit seinen Beisitzern und wandte sich dann an den Staatsanwalt, der stumm, aber aufmerksam jeden Vorgang im Gerichtssaal verfolgt hatte.
»Ich schlage vor, wir hören Angela Martens. Ist der Herr Verteidiger damit einverstanden?«
Dr. Hagedorn erhob sich und verneigte sich zustimmend. Er kannte die Einstellung seiner Klientin und fand diese Anordnung nur gut.
»Angela Martens«, rief der Gerichtsdiener auf.
Dr. Hagedorn wandte sich der Angeklagten zu, und sein Herz tat ein paar schnelle Schläge.
»Bitte, gnädige Frau, reißen Sie sich zusammen!« bat er beschwörend. »Nur noch diese Vernehmung, die anscheinend die letzte sein wird.«
Die aber die schwerste ist! ging es Bettina verzweifelt durch den Kopf. Ihre Pulse flogen, vor ihren Ohren lag ein Sausen und Brausen, dunkle Punkte tanzten vor ihren Augen, sie wurden groß, unheimlich groß, und sie mußte allen Willen zu Hilfe rufen, um der beängstigenden Schwäche Herr zu werden.
In Dr. Heykens’ Gesicht arbeitete und zuckte es. Er hätte aufstehen mögen, um das junge Geschöpf, das mit zaghaften Schritten in die Helligkeit des Saales trat, dieser Frau dort zuzuführen, der die Sehnsucht in den unnatürlich großen Augen brannte.
Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören, so groß und beklemmend war die Stille, die auf einmal über dem weiten, lichtdurchfluteten Raum lag.
Angelas Augen hetzten umher. Nicht die vielen Menschen sah sie. Sie suchte ein einziges liebes Gesicht, das sie aus Tausenden herausgefunden hätte.
Und da hatte sie es gefunden! Ihr Fuß stockte. Erschrecken lief über ihr todblasses Gesicht, und mit einem wehen Aufschrei stürzte sie vorwärts:
»Mutti!«
Beide Arme streckte sie verlangend aus, aber sie konnte sie nicht um den Hals der geliebten Mutter werfen. Die Bank trennte sie. So riß sie nur die Hände, die sich haltsuchend um das Gitter geklammert hatten, an sich und bedeckte sie mit unzähligen Küssen – immer wieder – immer wieder.
»Mutti – liebe, liebe Mutti!«
Es war ein erstickter Ausruf voll Liebe und Verzweiflung, voll Dankbarkeit und zitternder Sehnsucht.
Da kam Leben in die bisher reglose Frauengestallt. Die Züge, die vorher wie erstarrt gewesen waren, wurden weich, unsagbar weich und gütig. Ungeahnte Kräfte fühlte Bettina durch den geschwächten Körper fluten. Weit, ganz weit neigte sie sich vor und zog die schmale, bebende Gestalt in ihre Arme, an ihr Herz.
Was störte es Frau Bettina, daß die Menschen von ihren Plätzen aufgesprungen waren, um ihr Wiedersehen mit ihrem Kind genau sehen zu können!
Sie fühlte sich ganz allein mit ihrer Tochter. Nur sie – und Angela waren noch da. Der große Augenblick, auf den sie sich wochenlang vorbereitet hatte, war gekommen, endlich gekommen, und nun ließ sie alle Liebe, die sie vom ersten Augenblick an für Angela empfunden hatte, als man sie ihr als kleines, hilfloses Wesen in den Arm gelegt, in den Küssen ausströmen, mit denen sie das in Tränen schwimmende Mädchengesicht bedeckte.
»Angela, mein Mädelchen – meine Angela!«
Der Schmerz, der bisher wie ein Klumpen in ihrem Herzen gesessen hatte, löste sich in einer Tränenflut, die ihre Augen blind machte.
Sie erwachte wie aus einem wunderschönen Traum, als Dr. Hagedorn ihre Schulter sachte berührte und ihr einige Worte zuflüsterte. Sie erfaßte den Sinn nicht, aber plötzlich sah sie all die vielen Menschen, die vielen Fremden, gleichgültigen Menschen, die Zeuge ihres tiefen Gefühlsausbruches gewesen waren.
Bettina sprach plötzlich eifrig auf ihren Verteidiger ein, doch dieser schüttelte den Kopf. Jeder Muskel in ihr schien angespannt. Die Hände hatte sie an das Herz gepreßt, das so wild in der Brust arbeitete, daß sie bangte, es müßte jede Sekunde aussetzen.
Ihre Augen hetzten wie irr umher, bis sie auf Angelas durchsichtigem Gesicht einen Ruhepol fanden.
Nun würde man ihrem Kind unzählige Fragen vorlegen, die es nur quälten und peinigten. Sie lauschte mit vorgebeugtem Oberkörper, alle Sinne waren angespannt.
»Fräulein