»War?« fragte sie erstaunt. »Meine Tochter ist noch verlobt.«
Er zuckte die Schultern.
»Soviel ich erfahren konnte, bestehen keine Beziehungen mehr zwischen diesen Menschen.«
Langsam stand Bettina auf. Sie riß sich wohl zusammen, doch merkte er, wie sehr sie von seinen Worten getroffen war.
»Unmöglich!« stieß sie ziemlich ungläubig hervor.
»Ich kann mich ja irren, aber ich möchte es beinahe fest behaupten«, fuhr er fort. »Es wäre ja auch nur zu verständlich, daß Ihr Fräulein Tochter jetzt nicht an sich zu denken vermag.«
»Aber – aber gerade das wollte ich ja vermeiden!« klagte sie. Sie befand sich jetzt in unbeschreiblicher Erregung und mußte sich am Tisch festhalten.
Er sah die Angst in ihren Augen aufspringen, und ihre Frage verriet das erste Zeichen von Vertrauen.
»Oder verschweigen Sie mir etwas? Trennt vielleicht gar meine Tat mein Kind von dem großen Glück?«
Dr. Hagedorn atmete ein paarmal tief. Jetzt hatte er sie endlich da, wohin er sie haben wollte.
Hochaufgerichtet stand Frau Bettina inmitten des Raumes, den Kopf erhoben, das helle Haar lichtübergossen. Die eindringlichen, ehrlichen Worte des Anwalts hatten etwas in ihrer Brust zum Schmelzen gebracht, was nun wann zu Herzen rieselte.
Das, was ihre Nächte schlaflos und die Tage ruhelos gemacht hatte, das setzte ihr Dr. Hagedorn so schlicht und einfach auseinander, daß sie förmlich spürte, wie es hell und licht in ihrem Herzen wurde.
Tränen schwangen in ihrer Stimme, als sie ergeben sagte:
»Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe! Ich danke Ihnen, daß Sie mir den Weg wiesen. Wenn Dr. Heykens der Verhandlung beiwohnt, dann werde ich ihm mein Schicksal preisgeben.«
*
Hart waren Dr. Heykens’ Züge geworden. Selten einmal, daß sein Mund sich zu einem Lächeln verzog. Selbst wenn er durch die Reihen der Betten ging und tröstete, blieb er ernst.
Die Kollegen fürchteten ihn allmählich, denn er war beim geringsten Versehen sofort gereizt, und wenn er auch stets sachlich blieb, sein Spötteln wirkte um so lähmender. Man ging ihm aus dem Weg, wo man konnte, und er merkte es nicht einmal.
Nur Professor Langhammer wußte, daß sich hinter der schroffen Art seines Oberarztes ein wundes Herz verbarg. Wenn er einen Weg gesehen hätte, Peter Heykens wieder etwas Freude in das Dasein zu tragen, er wäre ihn unverzüglich gegangen.
Rückhaltlos offen war Peter zu seinem verehrten Chef gewesen. Er hatte sich in keiner Weise geschont, und aus dieser Beichte hatte Langhammer herausgehört, daß die Lage für seinen prächtigen Mitarbeiter hoffnungslos war.
Wie wäre er erst entsetzt gewesen, wenn er eine Ahnung von den neuesten Zukunftsplänen Dr. Heykens’ gehabt hätte! Himmel und Hölle hätte er in Bewegung gesetzt, diesen Schritt zu verhüten.
Er wunderte sich nur, daß Heykens so wenig über sein neues Heilverfahren sprach, wo ihm doch von fachkundiger Stelle die größte Anerkennung gezollt wurde. Geduldig wartete er auf den Zeitpunkt, wo Heykens über das Schlimmste hinweg war; aber es währte ihm schließlich fast zu lange.
Er hatte die Absicht, Peter die gesamte Leitung des Sanatoriums zu übertragen, um sich ganz seinen wissenschaftlichen Arbeiten widmen zu können.
Heimlich unternahm er die notwendigen Schritte; er wollte Peter, den er wie einen Sohn liebte, überraschen. Dabei sollte er eine noch größere Überraschung erleben.
Dr. Heykens hatte soeben eine schwere Magenoperation glänzend ausgeführt und war von dem Professor in dessen knapper Art gelobt worden. Erschöpft ließ er sich im Ärztezimmer am Fenster nieder und starrte in die Baumkrone der riesigen Kastanie, die ihre Blätter bis herüber zum Fenster streckte.
Unerträglich kam ihm das ganze Leben vor. In der Klinik hatte er den Kontakt mit den Kollegen verloren, und den Patienten war er auch kein guter Tröster mehr.
Der Professor arbeitete neben ihm mit einem stillen Vorwurf, und drüben in seinem Heim saß die Mutter, einen trostlosen Ausdruck in den Augen, den er kaum noch ertragen konnte.
Alle erwarteten sie eine Änderung von ihm. Er lächelte grimmig vor sich hin. Nun gut, sie sollten sie haben, diese Änderung, aber anders, als sie sie erwarteten.
Er griff in seine Brusttasche und entnahm ihr das Schreiben, das er schon eine geraume Weile mit sich herumschleppte und das seine Kündigung enthielt.
Ohne Eile schlüpfte er aus dem weißen Kittel und verließ etwas später das Ärztezimmer. Rasch durchmaß er die Gänge und trat in das Sekretariat. Auch dieser Gang fiel ihm schwer.
Dort saß jetzt eine neue Kraft, ein Mädchen, das den Schmelz der Jugend schon abgelegt hatte, mit glattem
dunklem Haar und kühlen blaßblauen Augen.
Er grüßte kurz und bat die Sekretärin:
»Legen Sie bitte diesen Brief dem Herrn Professor auf den Tisch, sobald er von der Visite zurückkehrt.«
Fast fluchtartig verließ er das schmale Zimmer wieder, das einst so voll Sonne gewesen war und ihm so lebhaft Angelas Bild vorgaukelte.
Mit müden Schritten verließ er das Hauptgebäude und ging seinem Heim zu. Ein dienstfreier Nachmittag lag vor ihm, der erste wieder nach langer Zeit. Er hätte sehr gern darauf verzichtet, wenn der Professor nicht energisch darauf bestanden hätte.
Eigentlich war alles verändert, auch Professor Langhammer. Schon lange nicht mehr war er grob, so herzerfrischend grob geworden, und er hätte wohl jetzt bestimmt mehr Grund dazu gehabt als früher.
Ein dienstfreier Nachmittag, überlegte er, mit dem ich nichts anzufangen weiß. Vielleicht bitte ich die Mutter, sich mir zu einer Spazierfahrt anzuvertrauen.
Ganz in Gedanken eingesponnen, erreichte er sein Wohnzimmer. Er war zufrieden, daß er der Mutter nicht begegnete. So brauchte er wenigstens nicht gleich Rede und Antwort zu stehen.
Behutsam zog er hinter sich die Tür ins Schloß – und blieb wie gebannt stehen. Er wischte sich über die Augen – einmal zweimal.
War er irrsinnig geworden? Träumte er am hellen Tag? War das junge Menschenkind, diese schmale, zarte Gestalt, ein Mensch von Fleisch und Blut oder würde die lichte Erscheinung sich im nächsten Augenblick in einem Nichts auflösen?
»Peter!«
Nein! Wirklichkeit! Kein Trugbild! Angela war gekommen! Angela war zu ihm gekommen! Sie stand vor ihm, ganz dicht vor ihm! Er brauchte nur die Hand auszustrecken und sich zu überzeugen. Das waren Angelas Augen, diese tiefgründigen und doch so klaren Augensterne, auf deren Grund das Leid brannte – und mehr noch, etwas, was ihm fast den Atem verschlug.
»Angela!«
Er riß sie an sich, bettete ihren Kopf an sein Herz und vergrub sein heißes zuckendes Gesicht in ihr Haar. Er preßte sie so fest an sich, daß Angela meinte, er würde sie zerbrechen.
»Angela! Angela!«
Doch so jäh die Freude in ihm aufgerauscht war, so jäh sank sie wieder in sich zusammen. Er hielt sie ein Stück von sich ab, versenkte den Blick in ihre feuchtschimmernden Augen.
»Noch weiß ich nicht, weshalb du gekommen bist«, sagte er mit vor Erregung zitternder Stimme. »Allein, daß du gekommen bist, daß du ungerufen gekommen bist, macht mich froh und glücklich. Sprich, Angela, was soll ich davon halten?«
Vor dem Strahl der Liebe und der Hoffnung, der aus seinen Augen brach, überkam sie ein Schwächegefühl. Mit einem Gesicht, erschreckend blaß und durchsichtig, lehnte sie den Kopf gegen seine Brust.
Hier war Ruhe und Geborgensein, ja, sie klammerte sich haltsuchend an ihn, weil sie nie einen Halt nötiger gebraucht hatte als eben jetzt.
»Angela«,