Auf einmal war eine dunkle schwingende, in Tranen schwimmende Stimme im Saal. Bettina griff zum erstenmal in die Verhandlung ein, und aller Augen richteten sich auf die Frau, die mit geisterhaft bleichem, aber entschlossenem Gesicht hochaufgerichtet in der Anklagebank stand.
»Ich will erzählen – ich will alles erzählen, von Anfang meiner Ehe bis zu jener unseligen Tat!« bat sie flehentlich. »Aber bitte verschonen Sie mein Kind mit weiteren Fragen! Ich bitte um diese einzige Gnade. Ich – ich kann es nicht ertragen, wenn man mein Kind mit Fragen quält.«
Auf diesen Augenblick hatte Dr. Hagedorn gewartet. Er sprang in die Höhe und lief zu dem Staatsanwalt hinüber. Auf einmal sah er seinen ganzen, sorgfältig aufgestellten Plan in Gefahr. Er sprach kurz, aufgeregt mit diesem und kehrte zu seinem Platz zurück.
»Ich schlage vor, die Angeklagte anzuhören«, ließ sich gleich darauf der Staatsanwalt, dem Gerichtshof zugewandt, vernehmen.
Eine ebenfalls kurze, geflüsterte Beratung, und der Vorsitzende erwiderte:
»Wir nehmen diesen Antrag an.«
Zittern überlief Frau Bettina. In einem glückhaften Atemzug schloß sie vorübergehend die Augen, sogar der Schatten eines Lächelns flog um ihren zuckenden Mund.
Unsägliches Staunen in den großen Augen, ließ sich Angela von Dr. Heykens zu der Zeugenbank führen. Von seinem starken Arm gestützt, fühlte sie sich geborgen. Nur konnte sie nicht begreifen, weshalb sie nicht aussagen sollte!
Zuerst lauschte sie mit angehaltenem Atem nur der geliebten Stimme, aber nach und nach erfaßte sie auch den Sinn der Worte – und sie erschauerte einmal über das andere.
Hatte Bettina zuerst stockend, gehemmt gesprochen, so erwärmte sie sich nach und nach. Sie vergaß, daß sie ihr Inneres preisgab vor fremden Menschen, denen ihr Schicksal ja gleichgültig sein mußte. Sie sah nur den Mann, der in der Zeugenbank lehnte und der ihr Kind schützend im Arm hielt.
Ihm, ganz allein ihm gab sie Rechenschaft über ihr Leben, ihre Liebe, ihr Leiden, und Dr. Heykens allein erzählte sie, daß von dem Augenblick an, da das Gericht diese kurze, aber qualvolle Ehe geschieden hatte, nur noch alle Liebe, deren sie fähig war, Angela gehört hatte.
Wohl berührte sie auch ihr Erlebnis mit Volker Brandt, der so gut zu ihr und ihrem Kind gewesen war und dem sie ihr Schicksal willig anvertraut hätte. Aber der Schatten Reimers war stärker gewesen.
Sie hatte Volker Brandt heiße Tränen nachgeweint, weniger ihres zerstörten Traumes wegen, als daß dieser ehrenhafte, edle Mensch an einem Mann wie Reimer hatte zugrundegehen müssen.
Immer war es ihr Kind gewesen, ihre Angela, die sie an das Leben fesselte, die sie an ihre Pflicht gemahnte, die sie als Mutter auf ihren Schultern trug.
»Solange ich mit meinem Kind allein leben durfte, waren wir die friedlichsten, glücklichsten Menschen. Wir kannten weder Haß noch Rachegefühle.
Ich durfte Angela behalten. War es nicht verständlich, daß mir mein Kind teurer wurde als alles andere? Hatte ich es mir nicht bitter erkämpft, dieses junge Leben?
Angela wuchs heran. Sie dankte mir meine Hingabe durch schrankenlose Liebe und brachte mir ihr ganzes Vertrauen entgegen. Nicht Mutter war ich mehr, nein, eine gute aufrichtige Freundin. Meine Freude war ihre Freude, mein Leid war ihr Leid. Uns gegenseitig jeden Kummer zu ersparen, das hatten wir uns heimlich geschworen. Wir wußten das, ohne jemals darüber zu sprechen.
Der Name Reimer war ausgelöscht, war einfach nicht mehr da, lebte nicht mehr in unserem Gedächtnis.
Von dem Tag an, da sich Reimer heimlich meinem Kinde näherte, traten Unruhe, Kummer und Sorgen wieder an mich heran. Ich wußte nicht, daß es der Schatten Reimers war, der sich zwischen mich und Angela gedrängt hatte, ich wußte nur, daß mein Kind anders war als sonst. Ja, mit Erschütterung mußte ich erkennen, daß mein Mädel, das sonst die Wahrhaftigkeit selbst war, zu lügen begann.
Ich habe Angela damals mit Mißtrauen betrachtet und mußte es ihr doch hinterher, als ich alles erfuhr, mit heißen Tränen abbitten.
So war es auch damals. Angela wollte meine Ruhe, meinen Frieden nicht stören, und so verschwieg sie mir, daß Reimer sie quälte, daß er sie täglich ari der Schule erwartete und sie zu Besuchen von Kaffeehäusern, sogar von Weinlokalen, zwang.
Angela dachte nicht an die Folgen, die diese Besuche für sie als Schülerin des Gymnasiums haben konnten, sie dachte nur an mich, daß ich ja nichts von Reimer erfuhr. Lieber log sie, lieber litt sie heimlich und spielte mir eine Komödie vor.
Wie es nicht anders zu erwarten war, trieb das alles einer Katastrophe zu. Angelas Mitschülerinnen verachteten sie, man warf ihr vor, daß sie mit Lebemännern die Nächte verbrächte, und sie wehrte sich nicht einmal, weil sie sich schämte, zugeben zu müssen, daß dieser Mann ihr Vater sei.
Noch war ich ahnungslos. Ich war nur zu Tode erschrocken, als mir Angela nach dieser großen seelischen Erregung wie tot vor die Füße sank.
Dann kamen die Nächte voll Ungewißheit und Bangnis. Jede Stunde konnte über Leben und Tod entscheiden.«
Die Menschen saßen bewegungslos und hörten die erschütternde Beichte der Frau. Man vergaß, daß man in einem Gerichtssaal saß, man vergaß, daß diese Frau eine Mörderin war. Man wußte nur: Selten war man einem so ergreifenden Schicksal begegnet, einem Schicksal, das kaum glaubhaft war und wie ein Drama, auf einer großen Bühne gespielt, anmutete.
Es war die Bühne des Lebens!
Und die Frauenstimme, die immer mehr gefangennahm, so daß man fast das Atmen vergaß, sprach weiter:
»Der Herrgott war barmherzig gewesen, er hatte mir mein Kind gelassen, damit auch ich weiterleben konnte. Angela genas langsam, aber sicher. Gute Freunde, denen ich bis an mein Lebensende dankbar sein werde, hatten ihr im Langhammer-Sanatorium eine Stellung als Sekretärin verschafft.
Mein Mädel war überglücklich, und die häßlichen Schatten schwanden. Sie meinte, Reimer habe eingesehen, daß ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen ihr und ihm bestünde. Mich hat er ja zu dieser Zeit mut seinen Quälereien verschont, aber indirekt traf er mich tausendmal mehr als mein Kind. Das hat er gewußt, und darauf baute er seine Pläne, die gegen Angela gerichtet waren, auf.
Noch einmal durfte ich glücklich und friedlich mit meinem Kind im Hause Dr. Hersfelds leben. Noch einmal glaubten wir beide, unsere Leidenszeit sei nun endgültig vorüber.
Ich sah die Liebe im Herzen meiner Angela wachsen und wurde noch einmal jung. Ja, was ich nie für möglich gehalten hatte: Angela, die stets ein verschlossenes, scheues und zurückhaltendes Menschenkind gewesen war, lernte das Lachen, das fröhliche, unbeschwerte Lachen der Jugend, das ich so sehr an ihr vermißt hatte.
Von da ab betete ich doppelt heiß um das Glück meines Kindes. Ich kannte den Mann, dem Angelas Herz zugeflogen war, noch nicht, aber ich liebte ihn jetzt schon wie einen Sohn. Er mag wohl die Lauterkeit meines Kindes erkannt haben, denn er bedrängte Angela nicht.
Eines Tages standen sie als glückseliges Brautpaar vor mir. Ich konnte ihres Glückes nicht recht froh werden, eine Ahnung vor kommendem Unheil bedrückte mich.
Und meine Ahnung erfüllte sich.
Reimer ließ wieder von sich hören, und welch unglücklicher Zufall – er lag schwerverletzt im Sanatorium Langhammer, unter demselben Dach, wo meine Angela ihr Brot verdiente und wo ihr Verlobter tätig war! Er schrieb mir drei drohende Briefe und wünschte darin Angelas Besuch. Ich belächelte diese Drohungen und legte die Schreiben beiseite.
Meine Gedanken galten Angela und ihrem Verlobten und der Zukunft. Ich holte die Sparkassenbücher hervor, die ich mit der Zeit für mein Kind angelegt hatte. Angela sollte würdig ausgestattet werden. Dabei fiel mir der Revolver in die Hand, den ich von meinem Vater geerbt hatte. Ich schauerte vor der Kälte des Stahles zurück. Nie wäre mir der Gedanke gekommen, mich hinter diese Waffe zu retten, wenn Reimer meinen Weg nicht wieder gekreuzt hätte.
Angelas