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haben Ihnen wohl schon viele gesagt?« setzt er sein Verhör fort. Langsam gewinnt sie Spaß daran.

      »Ach, es sind schon einige«, wiederholt sie seine Worte, so daß er hell herauslachen muß.

      »Sie sind nicht zu fassen, Marion.« Er sinnt hinter ihren Worten her. »Manchmal glaube ich, Sie könnten überhaupt nicht lieben.«

      »Wollen wir nicht das Thema wechseln?« Sie sitzt ruckartig aufrecht. Ihr Mund ist zusammengepreßt.

      »Gut, reden wir von etwas anderem«, gibt er bereitwillig nach. Aber ihre Worte lassen ihn innerlich los. »Wo wollen wir essen?«

      »Führen Sie mich irgendwo hin. Sie wissen besser Bescheid als ich.«

      Schweigsam fahren sie weiter. Vor einem guten Lokal außerhalb halten sie. Reincke stellt eine sorgfältig ausgewählte Mahlzeit zusammen. Sie sprechen von allen möglichen Dingen, nur nicht von dem, was sie beschäftigt. Es liegt wie geheime Spannung in der Luft, die Reincke durch allerlei Erzählungen und Scherze zu lösen versucht.

      In der Dämmerung erst kehren sie zurück. Der Wind peitscht gegen die Scheiben. Leise brummend fegen die Scheibenwischer die Tropfen hinweg.

      Im gleichmäßigen Tempo rollt der Wagen über die Landstraße. Im Scheinwerferlicht tauchen die im Winde und vom Regen gepeitschten Birken auf.

      Sie huschen wie lange, gespenstische Schatten vorbei. Aus dem Dunkel der Bäume tritt eine Gestalt hervor. Auch sie wirkt gespenstisch, sie taumelt und torkelt direkt in den Lichtkegel hinein.

      Bremsen quietschen. Augenblicklich steht der Wagen. Das volle Licht des Wagens ergießt sich über eine, auf dem Rücken liegende, zusammengekrümmte Männergestalt, unbarmherzig bescheint es ein schmales, tiefblasses, wie leblos wirkendes Gesicht.

      Marion hat der Druck nach vorn geworfen. Sie klebt an der Windschutzscheibe, und was sie sieht, läßt ihr beinahe das Blut in den Adern erstarren. Es ist ein Männergesicht, das ihr einst sehr vertraut war; damals strotzend vor Gesundheit, jetzt ohne jede Farbe, der Mund verzerrt, vom Leid gezeichnet die Züge und fremd, erschreckend fremd.

      Sie preßt die Hände vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der sich ihr entringen will. Sie hört, wie Reincke die Tür öffnet, sich hinausschwingt und sieht ihn im Scheinwerferlicht auftauchen. Er hebt dieses Gesicht empor, und da weiß sie, daß es Wahrheit ist.

      Ulrich Karsten ist in den Wagen gelaufen. Ausgerechnet in den Wagen, in dem sie sitzt.

      Jetzt schreit sie wirklich auf, wahnsinnig vor Angst, reißt die Tür auf, rafft ihre Tasche an sich und stürzt hinaus. Sie schlägt auf die Knie, spürt einen irrsinnigen Schmerz durch ihren Körper rasen.

      Aber ihre Angst ist größer als aller Schmerz.

      Sie hetzt davon, blindlings hinein in den Regen, in das Dunkel, sinnlos vor Grauen. Die Dunkelheit verschlingt sie, und auch der Ruf William Reinckes erreicht sie nicht mehr:

      »Marion! Marion, helfen Sie mir!«

      Unendlich behutsam, erschüttert bis ins Herz hinein, bettet Reincke das haltlos zur Seite gleitende Haupt in seinem Arm.

      »Du armer, lieber Kerl«, murmelt er. »Hier muß ich dich finden«, und er ruft abermals nach der Hilfe seiner Begleiterin.

      Zwei helle Lichter bohren sich in das Dunkel. Sie kommen näher und näher. Verzweifelt blickt er dem Wagen entgegen. Wird man ihn bemerken?

      Und der Wagen hält. Ein Mann schwingt sich heraus, kommt auf Reincke zugeeilt.

      »Ein Unglück?«

      »Helfen Sie mir, bitte«, keuchte Reincke, dem der Angstschweiß ausgebrochen ist. Und der Mann fragt nicht. Er faßt mit an. Gemeinsam tragen sie den schweren Körper zu Reinckes Wagen, betten ihn so gut es geht auf den hinteren Sitz.

      »Ich danke Ihnen«, sagt Reincke. Er zittert und greift nach seinen Zigaretten. Er hat im Augenblick ganz seine Begleiterin vergessen, so sehr geht ihm der Zustand Karstens zu Herzen.

      »Ich danke Ihnen«, wendet er sich mit todernstem Gesicht an den Fremden. Eine Verbeugung und Reincke ist allein mit dem Freund. Er nimmt die Taschenlampe aus dem Handschuhkasten, leuchtet die nähere Umgebung ab und findet nahe am Stamm der Birke Karstens Koffer.

      Armer Kerl weiter kann er nicht denken. Er fährt langsam, als habe er kostbares Gut zu befördern. Dabei überschlagen sich seine Gedanken bald.

      Er verschwendet nur noch einen Gedanken an Marion. Er wird sie wiedertreffen und dann wird sie ihm erklären, warum sie geflohen ist.

      Es ist eine traurige Fracht, die William Reincke in sein Elternhaus bringt.

      Im Nu hat er seine Schwägerin Lieselotte verständigt. Telefonisch ruft er den Arzt herbei. Dann beaufsichtigt er, wie man den fiebernden, abgezehrten Körper Ulrich Karstens weich in das schöne Gastzimmer bettet, dessen breites Fenster hinaus in den Park führt und über der Terrasse liegt.

      Er sieht nur das schrecklich veränderte Gesicht des Freundes, das sich gelblich von dem Weiß der Kissen abhebt.

      »Du mußt ins Bad«, hört er die mahnende Stimme seiner reizenden Schwägerin Lieselotte, einer schlanken Blondine, mit viel Humor und Herz, der er sehr zugetan ist. »Sonst haben wir bald zwei Patienten im Hause.«

      »Später«, winkt er ab und raucht voll Nervosität eine Zigarette nach der anderen. Und der Freund rast im Fieber.

      »Marion«, schreit er auf. Blitzartig ruckt Reincke herum. Noch einmal der flehende Ruf. »Marion!«

      Da sinkt Reincke neben dem Bett auf den Stuhl und nimmt die heiße Hand des Freundes auf. Gedankenverloren betrachtet er die von Kummer und Leid gezeichneten Züge.

      »Jetzt verschwindest du aber ins Bad, Wulli«, fordert seine Schwägerin energisch. »Willst du dir eine Lungen­entzündung holen?«

      Er drückt ihr im Vorübergehen dankbar die Hand, und sie winkt wortlos ab. Sie verstehen sich ohne große Worte.

      Gerade, als er von Kopf bis Fuß neu eingekleidet das Krankenzimmer betritt, wird der Arzt gemeldet.

      »Schön von Ihnen, Doktor«, begrüßt Reincke ihn und erzählt ihm, daß er seinen Freund buchstäblich von der Straße aufgelesen hat.

      Schweigend macht Doktor Winzer sich an die Untersuchung.

      »Total unterernährt. Dazu eine schwere Lungenentzündung. Ich muß Ihnen die Wahrheit sagen. Viel Hoffnung habe ich nicht.«

      Reincke sieht verbissen aus. »Und er muß durchkommen«, stößt er hervor.

      Eine böse Zeit bricht für die Bewohner der Reinckeschen Villa an. Tagelang schleicht der Tod um das Haus und wartet geduldig auf sein Opfer. Das Fieber steigt und sinkt.

      Reincke kommt in diesen aufreibenden Tagen kaum aus dem Hause. Manchmal, in diesen Nachtstunden, da der Kranke diese verzweifelten Rufe ausstößt, da eilen seine Gedanken zu Marion Wendland, die er allerdings nur als »Marion« kennt.

      Nicht die leiseste Ahnung hat er, daß in den schlanken Händen Marions das Rätsel zu Karstens Schicksal liegt.

      So gehen die Tage dahin, in einem ewigen Auf und Ab, bis eines Vormittags Doktor Winzer lächelnd aus dem Krankenzimmer kommt.

      »Ich glaube, wir haben dem Sensenmann ein Schnippchen geschlagen.«

      Erstmals wieder lächelt William Reincke. Seine dunklen Augen glänzen vor Freude. Er drückt dem Arzt so fest die Hand, daß dieser schmerzhaft den Mund verzieht.

      »Mir brauchen Sie nicht zu danken, junger Freund. Ihrer Schwägerin, Schwester Elisabeth und Ihrer Aufmerksamkeit.« Er sieht Reincke mit einem warmen Blick an.

      Auf Zehenspitzen betritt Reincke das Krankenzimmer.

      Es herrscht eine friedliche Stille in dem weiten Raum. Als Ulrich Karsten aus tiefer Bewußtlosigkeit und dunkler Nacht zu einem neuen Leben erwacht, fällt sein erster Blick auf den Freund.