in der Schreinerei, machte nicht das geringste Training, sondern ruhte sich aus. Ich begriff nicht, wie man einen Tag durchstehen konnte, ohne körperlich etwas zu tun.
Auch heute fühle ich mich erst dann richtig wohl, wenn ich physisch ausgepumpt bin. Dann habe ich die Ameisen – die roten, nicht die schwarzen –, die mir durch Arme und Beine kribbeln, unter Kontrolle. Ohne »Auslauf« werde ich unausstehlich. Das ist wie bei einem Schlittenhund. Sperrt man den Husky einen Tag lang ein, kann man ihn am nächsten Tag nicht mehr bremsen. Zwei Tage hintereinander kein Auslauf, und er verliert das Feuer in den Augen. Dass ich mein Feuer behalten konnte, verdanke ich unter anderem Remo Zberg, der mir nicht nur Lauftechnik vermittelte, sondern auch die Philosophie des Laufens.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Er gab mir noch mehr. Er war für mich – ohne es zu wissen – ein Fallschirm. Seine Frage, ob ich im Verein mitmachen wolle, bedeutete mir unendlich viel. Ich wurde wahrgenommen. Da war einer, der glaubte, dass ich etwas leisten konnte.
Wäre Remo Zberg nicht gewesen, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Ich war damals in einer unglaublich schwierigen Phase. Hochpubertär, wie ich war, wollte ich alles sein, bloß eines nicht: angepasst. Ich wollte nicht so ernsthaft, pflichtbewusst, organisiert und verplant sein wie die Erwachsenen. Ich wollte frei sein. Und frei sein bedeutete für mich nächtelang mit älteren Kollegen in dunklen Schuppen herumhängen, rauchen, trinken und Spielsalons aufsuchen. Letzteres war das Faszinierendste, weil ich – gerade mal dreizehn Jahre alt – dank meiner Größe überall problemlos reinkam. Meinen Eltern log ich in dieser Zeit das Blaue vom Himmel herunter. Und wurde dabei nicht mal rot. Sie glaubten, ich verbringe die Abende bei Freundinnen, um für die Schule zu lernen. Remo Zberg schenkte mir in einer Zeit der Orientierungslosigkeit nicht nur Vertrauen in mich selbst, er eröffnete mir auch Perspektiven und gab mir das Wichtigste überhaupt: Ziele.
Remo Zberg, Leichtathletik-Trainer
Evelyne fiel mir im Schulsport auf. Ein Mädchen, das immer in Bewegung war, selbst dann, wenn es nichts tat. Evelyne war die Unruhe selbst und darüber hinaus ein aufgestelltes, immer fröhliches Wesen, dessen Lachen aus dem Innersten kam. Sie war ein Mädchen, das man einfach gern haben musste. Ich hatte das Gefühl, sie passe in unseren Verein, und fragte sie, ob sie bei uns mitmachen wolle. Sie wollte. Und wie.
Ich hatte weder vorher noch nachher ein solch talentiertes junges Mädchen unter meinen Fittichen, keines, das so diszipliniert und trainingseifrig war wie sie. Evelyne war – zumindest anfangs – absolut unproblematisch und für ihr Alter von einer geradezu bemerkenswerten Zuverlässigkeit. Und erst noch äußerst kollegial.
Mit ihren Leistungen war sie nie zufrieden. Immer orientierte sie sich nach oben, wollte besser werden, wollte so gut sein wie die älteren Läuferinnen in der Elite.
Ich erkannte bald, dass sie keine explosive, schnell kräftige Athletin war, sondern eine, deren Stärke in der Ausdauer lag. Sie war die geborene Langstreckenläuferin, doch mit ihren dreizehn Jahren war sie dafür noch zu jung. Also trainierte ich sie auf der Mittelstrecke, auf 800, 1000 und 1500 Metern. Schließlich musste sie zuerst eine gewisse Schnelligkeitsbasis entwickeln.
Bald schon brillierte sie in ihrer Alterskategorie bei den Schweizer Meisterschaften und wurde – über 1500 Meter – sogar mal Fünfte. Ich bin mir sicher, ihr Potenzial hätte gereicht, um in die Weltspitze vorzudringen.
Sie setzte die Techniken, die ich ihr beibrachte, schnell um und begriff bereits in jungen Jahren, dass Leistung im Kopf beginnt. Allein mit Körperkraft und Ausdauer ist im Sport noch keiner groß geworden, der Geist, das Wollen, das Sich-zurücknehmen-Können in die Ruhe, kurz, das Mentale spielt eine sehr große Rolle. Man kann es auch anders ausdrücken: Einen langfristigen Erfolg haben nur Sportler, deren Geist und Körper harmonieren. Und das taten sie bei Evelyne von Anfang an. Dass aus ihr trotz dieser Voraussetzungen keine erfolgreiche Läuferin geworden ist, ist einzig und allein ihrem Bewegungsdrang zuzuschreiben. So seltsam es klingt, sie trainierte ganz einfach zu viel.
Evelyne genügte das Training, das ich für sie ausgearbeitet hatte, bald nicht mehr. Sie hielt keine Ruhepausen ein und machte mir dauernd Striche durch die Rechnung. Kaum hatte sie eine freie Minute, rannte sie auf alle möglichen und unmöglichen Berge, und zwar in einem, selbst für mich, Schwindel erregenden Tempo. Und weil ihr das noch immer nicht genügte, fuhr sie zusätzlich mit dem Bike.
Später, in der Lehre, die sie in Engelberg absolvierte, fuhr sie mit dem Fahrrad jeden Abend von Engelberg nach Hergiswil. Immerhin 26 Kilometer. Als ich ihr dies als »definitiv zu viel des Guten« ausreden wollte, erklärte sie, sie verzichte nicht auf diese Fahrten, schließlich sei sie mit dem Rennvelo schneller zu Hause als mit dem Zug. In der Lehre begann sie auch, im Winter exzessiv Ski zu fahren und im Sommer zu klettern. All das hat nicht dazu beigetragen, dass sie in der Mittelstrecke schneller geworden wäre. Falsches Training, weil unkontrolliert. Ihr Körper reagierte entsprechend, machte Entzündungen. Sie litt unter starken Schmerzen – doch nicht mal diese konnten sie bremsen.
1986 hatte ich genug davon, ich stellte sie vor die Entscheidung. Entweder sie trainiere wie eine Leichtathletin und würde eine Topsportlerin auf der Langstrecke, oder sie tue weiterhin, was sie wolle, und suche ihr Glück woanders.
Evelyne entschied sich für den Alpinismus, und ich versuchte, ihr meine Enttäuschung nicht allzu sehr zu zeigen. Ich wusste damals längst, dass sie ihren Weg gehen würde.
Jahre später, sie hatte bereits das Bergführerinnenpatent in der Tasche, organisierte der Schulrat Hergiswil einen Kletter-Event und fragte sie, ob sie uns an der Kletterwand betreuen würde. Als wir ein paar Wochen später wie die Fliegen an der Wand klebten, holte sie das Letzte aus uns heraus. Sie begeisterte alle. Ohne Ausnahme. Frauen genauso wie Männer.
Evelyne wurde zwar keine Spitzenläuferin, eine Ausnahmeerscheinung ist sie auf jeden Fall geblieben. Ihr Charisma ist einzigartig.
3Russells Bergführer sind die beiden Amerikaner Andy Lapkass und Chris Warner sowie der Däne Asmus Morreslet. Asmus war voriges Jahr zum ersten Mal auf dem Dach der Welt. Chris hat dem Mount Everest bisher andere Achttausender vorgezogen, und Andy stand schon zwei Mal auf dem Gipfel. Mit ihm verbindet mich eine herzliche Beziehung, die aber immer auch etwas distanziert ist. Mir gefällt dieses Reservierte. Zu viel Nähe halte ich nicht aus.
Das Leben im Basislager hat bereits seine Routine. Wie in einem kleinen Dorf kennt man die Leute der 22 Expeditionen, baut zu den einen eine stärkere Beziehung auf als zu andern – so wie in jeder Nachbarschaft.
Dass wir alle dasselbe Ziel verfolgen, stärkt unseren Gemeinschaftssinn sehr. Man besucht sich, sagt »salü«, trinkt Tee zusammen, unterstützt sich. Die, die ihr vorgeschobenes Basislager bereits eingerichtet haben, geben den andern Tipps. Es herrscht ein guter Zusammenhalt, der aber bei jedem Wetterwechsel in sich zusammenzubrechen droht.
Das Wetter ist das Zünglein an der Waage. Die Besteigung des Mount Everest ist nur an wenigen Tagen im Jahr möglich, immer dann, wenn sich die Winde verschieben. Wenn der Jetstream mit seinen unglaublichen Geschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern den Monsunwinden Platz macht. Dieses Wetterfenster dauert in der Regel nur wenige Tage und entscheidet über Erfolg oder Misserfolg. Es gibt Jahre, in denen der Berg sein Fenster gar nicht öffnet.
Die Abhängigkeit vom Wetter und von seinen Launen wirft jeden auf sich selbst zurück. Jeder bleibt für sich. Ganz auf sich allein gestellt ist jedoch keiner. Nicht mal Russell und seine Bergführer Andy, Chris und Asmus. Wie wir alle werden auch sie behütet und betreut. Von den Sherpas. Ohne sie könnten die meisten gleich wieder zusammenpacken. Russell hat ein festes Team von Sherpas, für die er – genau wie für uns auch – in Tibet Bewilligungen einholen musste, damit sie von Nepal nach Rongbuk reisen durften.
Es sind die Sherpas, die die eigentliche Bergführeraufgabe übernehmen. Am Berg haben wir Westler im Vergleich zu ihnen nicht die geringste Chance. Weder in Bezug auf Leistung und Ausdauer noch in Bezug auf Mentalität und Hilfsbereitschaft. Wir sind viel zu egoistisch eingestellt, haben weder die Ruhe noch die Größe, um uns