Gabriella Baumann-von Arx

Schritte an der Grenze


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keine Rettung mehr gibt. Ohne sie wären auch zwei von uns am Berg geblieben. Für immer.

      Erzähle ich von den Sherpas, beobachte ich oft, dass viele Leute glauben, ein Sherpa sei ein Mann, der nicht viel redet, dafür aber umso mehr Material schleppt. Ein Lastesel eben. Dem ist nicht so.

      Die Sherpas sind ein Volk, das geografisch zwar in Nepal, ethnisch aber nach tibetischer Kultur lebt. Die Sherpas kommen in der Höhe unglaublich gut zurecht. Dort, wo wir kaum mehr genügend Kraft für uns selbst aufbringen, geschweige denn für andere sorgen können, schleppen sie nicht nur schwere Lasten, sondern stellen Zelte auf, spannen Fixseile, schmelzen Schnee und gehen für uns immer wieder Gefahren ein.

      Auch Robert und ich profitieren von ihrer Kraft und Ausdauer. Die Sherpas richten für uns die Lager ein und bringen einen Teil der Ausrüstung bis auf 8400 Meter. Leider gibt es Mount-Everest-Besteiger, für die Selbstverantwortung am Berg nicht existiert. Sie lassen sich von den Sherpas nicht nur am Seil auf den Gipfel begleiten, sondern geben ihnen auch noch den Rucksack zum Tragen.

      Einen Sherpa kann man um sehr, sehr vieles bitten, denn ein Nein kommt ihm selten über die Lippen. Das liegt in seiner Religion, dem Buddhismus, begründet. Buddhisten glauben, dass sie durch eine Folge von Wiedergeburten eine geistige Vollkommenheit erreichen. Wie sie reinkarniert werden, bestimmt das Karma, das besagt, dass alle Handlungen in diesem Leben einen Einfluss haben auf das nächste.

      Schlagzeilen machen die Sherpas fast nie, wir sind es, über die geschrieben wird. Für die Sherpas gibt es höchstens mal eine kleine Pressenotiz, dann zum Beispiel, wenn einer von ihnen sein Leben am Mount Everest gelassen hat.

      Eine Ausnahme war Sherpa Tensing Norgay, der Mann, der am 29. Mai 1953 zusammen mit dem Neuseeländer Edmund Hillary als erster Mensch auf dem Dach der Welt stand und internationale Berühmtheit erlangte.

      Fast dreißig Jahre zuvor, 1924, schrieben George Leigh Mallory und Andrew Irvine Everest-Geschichte. Noch immer ist nicht geklärt, ob die beiden Engländer auf dem Weg nach oben verschwanden oder aber auf dem Weg nach unten, was bedeuten würde, dass Sherpa Tensing und Hillary nicht die Ersten waren, die auf dem Gipfel standen. Was Hillary allerdings egal zu sein scheint. »Es kann gut sein, dass ich nicht der erste Mensch war, der oben stand, ich war aber unter Garantie der Erste, der wieder zurückkam«, meinte er einmal.

      Was mit Mallory und Irvine wirklich geschehen ist, darüber wird heute noch heftig spekuliert. Am 1. Mai 1999 machte eine amerikanisch-deutsche Expedition auf 8250 Metern eine fantastische Entdeckung: Mallorys Körper – konserviert von Eis und Kälte. Neben ihm seine Ausrüstung. Leider fehlte die Kamera, die die Engländer bei sich hatten und von der man sich schlüssige Beweise darüber erhoffte, ob die beiden beim Aufstieg oder aber beim Abstieg ums Leben gekommen sind. Nach Irvine und der Kamera sucht man noch immer.

      Irvine sollte auch bei unserer Expedition von Bedeutung sein. Andy, der den Mount Everest schon zweimal erfolgreich von der Südseite her bestiegen hat, erzählt mir von ihm. Nicht am Anfang, sondern erst am Ende unserer Expedition. Andy liegt in seinem Zelt. Er könnte ebenso gut tot sein. Er erzählt mir, dass ihn seit Jahren der immer selbe Traum verfolge. Eigentlich, sagt er, träume er eine Fotografie, ein Standbild. Er träume vom letzten Grat vor dem Gipfel, sehe dessen weiche, schneebedeckten Wölbungen und wisse, er müsse nochmals rauf und wieder rauf, so lange rauf, bis er den Traum nicht mehr träume. Dann spricht er von Irvine. Sagt, er habe das Gefühl, es sei der Geist Irvines, der ihn antreibe, es auch von der Nordseite her zu versuchen. Er glaube, dass er für Irvine den letzten Grat bis zum Gipfel des Mount Everest hinaufsteigen müsse, das letzte Stück der Route, das Irvine wahrscheinlich nicht gegangen ist. Er fühle zwei Kräfte in sich, die eine, die ihn noch einmal auf den Gipfel treibe, die andere, die mit dem Mount Everest abschließen und endlich heiraten wolle. Das Reden bereitet ihm große Mühe, er fragt, ob ich ihn verstehe. Statt einfach Ja zu sagen und weil ich sehe, wie sehr ihn das Sprechen ermüdet, erzähle ich ihm eine Geschichte. Ich erzähle ihm meine Geschichte von Patagonien.

      4Patagonien gehört zum südlichsten Zipfel Südamerikas. Es erstreckt sich über zwei Länder. Der westliche Teil liegt in Chile, der östliche in Argentinien. Patagonien bietet alles, was Abenteurer sich wünschen. Legendäre Berge, große Seen, eine endlose Pampa und Gletscher, deren Zungen sich mancherorts bis hinunter auf 900 Meter über dem Meer erstrecken. Für viele gute Kletterer ist Patagonien das Paradies schlechthin. Die Berge, aus Granit und so spitz geformt wie Nadeln, fordern einem alles ab und haben so aussagekräftige Namen wie Dedos del Diablo, »Finger des Teufels«.

      Viele Berge Patagoniens tragen Namen von Verstorbenen. Einer davon ist benannt nach Antoine de Saint-Exupéry, der als Flugpionier genauso berühmt war wie als Autor. Er war einer der ersten Piloten, die als Flugkuriere Post in alle Welt beförderten. Seine Frau Consuelo stammte aus Guatemala, und Saint-Exupéry flog häufig für eine französische Fluggesellschaft in Südamerika. Bevor er 1944 mit seinem Flugzeug ins Mittelmeer stürzte, schenkte er uns den »Kleinen Prinzen«.

      Ein anderer, der Torre Egger, ist nach Toni Egger benannt. Der Österreicher machte, zusammen mit dem Italiener Cesare Maestri, im Januar 1959 eine Erstbegehung am Cerro Torre, dem berühmtesten Berg Patagoniens.

      Beim Abstieg stürzte Toni Egger jedoch ab, und zwar samt Kamera, die man nie mehr gefunden hat. Maestri konnte daher nie beweisen, dass sie den Gipfel tatsächlich erreicht hatten. Die Polemik, ob sie die Erstbesteiger waren oder nicht, hält bis heute an. Was Maestri inzwischen gleichgültig sein dürfte, schließlich bestieg er 1970, also elf Jahre später, den Cerro Torre dann doch noch als Erster. Noch immer gilt der Cerro Torre als einer der schwierigsten Berge der Welt und stellt in Kletterkreisen eine Reifeprüfung dar.

      Mein liebster Berg in Patagonien heißt Mount Fitz Roy. Mit seinen 3405 Metern ist er gleichzeitig auch die höchste Erhebung Südpatagoniens. Seinen Namen verdankt er Robert Fitzroy, einem englischen Kapitän. Den Gipfel des Fitz Roy umgibt fast ständig eine Fahne aus kondensierter Luft, hervorgerufen durch die gewaltigen Winde, die an seinen Felswänden ihre Kräfte messen. Die Einheimischen Patagoniens glaubten, der Berg sei ein Vulkan. Sie nannten ihn daher El Chaltén, was so viel bedeutet wie »der rauchende Berg«. Hat er seine Windfahne gehisst, ist eine Besteigung schlicht unmöglich.

      Patagonien ist eine der urwüchsigsten Gegenden der Erde. Ihren Namen erhielt sie von Magellan, der während der Eroberungszüge Spaniens und Portugals im Jahr 1520 am Strand von Los Julian Abdrücke von ungewöhnlich großen Füßen fand. Daraufhin nannte er das Gebiet »País de los patagones«, Land der Großfüßler (»pata« bedeutet auf Spanisch »Pfote«). Mit Magellans »Großfüßlern« waren die Tehuelche-Indios gemeint, deren riesige Fußabdrücke von den Fellen der Guanakos, einer Art Lama, stammten, mit denen sie ihre Füße schuhartig umwickelten.

      Patagonien ist für mich eine sehr männliche Gegend, vielleicht sogar die männlichste. Zumindest in Bezug auf das Klettern. Patagonien, das bedeutet klettern in senkrechtem Granit und in ungewöhnlich steilen, meist mit Eis gefüllten Rissen. Hände finden nie warmen Felsen, Füße selten festen Halt, da sie in viel zu großen Kletterschuhen stecken, weil sie mit dicken Socken vor der Kälte geschützt werden müssen. Die Kletterei in Patagonien erfordert keine feine Technik, sondern enorme Kraftreserven.

      Hinzu kommt ein steter, kräftiger, oft stürmischer Westwind, der durch die großen Druckunterschiede zwischen dem Subtropenhoch des Pazifiks und der Tiefdruckrinne der Antarktis hervorgerufen wird. Der Sturm ist Patagoniens Begleiter, einer, der wütet und mit den Granitnadeln in einem ständigen Machtkampf steht.

      Die Stürme Patagoniens sind Stürme des Schreckens. Ich habe noch nirgendwo sonst auf der Welt solch wütende Stürme erlebt. Es scheint, als wollten sie alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zerstören. Sie brausen unangekündigt heran, innert Minuten können sie einen Kletterer in einen Kampf ums Überleben zwingen. Vielleicht erheben sich Patagoniens Granittürme deshalb so stolz, so mächtig und so unantastbar, weil sie diesen Stürmen immer wieder die Stirn bieten. Ich kenne kein Gebirge, das mich in seiner Ausstrahlung mehr beeindruckt hätte.

      Ich reiste zwei Mal nach Patagonien, beide Male mit dem großen Wunsch, auf dem Haupt des Fitz Roy zu stehen. Als ich meinen Lieblingsberg das erste Mal sah, blieb ich, fasziniert