Atmosphäre, das Hier und Jetzt, das wir in uns aufnehmen sollen.
Ich sitze da – in meinen Ohren das Gemurmel der Mönche und das Flattern des Windes – und halte zwei Stunden lang still. Ich! Keine roten Ameisen, die in meinen Adern kribbeln, nur Ruhe. Und Sentimentalität. Eine, die ich von zu Hause kenne, die ich dann verspüre, wenn ich am Heiligabend in der Mitternachtsmesse »Stille Nacht, heilige Nacht« singe.
Der Moment fesselt mich, ich fühle mich glücklich, fröhlich, zuversichtlich, ich fühle mich geborgen. Fühle mich aufgehoben, nein, mehr noch, ich fühle mich beschützt. So wie ich mich früher beschützt fühlte, wenn mich meine Mutter tröstend in die Arme nahm. Die Intensität dieser Zeremonie treibt mir jäh die Tränen in die Augen. Und plötzlich ist es da, das Wort: pilgern. Das ist es, was ich hier im Himalaja tue, wo sich die höchsten Gipfel der Erde erheben, wo Himmel und Erde sich so nah sind wie nirgendwo sonst – ich pilgere, besuche die Götter dieser Welt.
Als die Mönche die Segnung beenden, spüre ich, dass ich meine Chance bekommen würde, eines Tages auf dem Dach der Welt zu stehen. Ich fühle eine große Verbundenheit mit Chomolungma, fühle, dass mir der Berg gut gesinnt ist. Aber ich empfinde auch ein Gefühl von Bescheidenheit. Wenn der Berg oder die Macht, die ich hier verspüre, nicht wollen, dass ich jemals auf dem erhabensten Platz unserer Erde stehen soll, werde ich mich fügen. Oder dies zumindest versuchen.
Die Zeremonie schenkt mir die Freiheit loszulassen. Geschehen zu lassen. Abschied zu nehmen. Abschied zu nehmen von der Sehnsucht nach meinem Lebenspartner Sandro, aber auch von allen Zwängen, Erwartungen und Gewohnheiten.
Ich atme tief durch, stehe auf, schaue zu, wie zum Abschluss der Feier für jedes Expeditionsland ein Wimpel neben die Gebetsfahnen gehängt wird. Für Robert und mich flattert das weiße Kreuz auf rotem Grund.
Als ich zu meinem Zelt zurückgehe, sehe ich Tsangbu, einen siebzehnjährigen, nur gerade einsfünfzig großen Jungen, wie er zum Fluss hinuntergeht, um Wasser für uns zu holen. Ich beobachte ihn, sehe, mit welcher Ruhe er Fuß vor Fuß setzt, wie er, als er unten ankommt, den dreißig Liter fassenden Kanister absetzt und ohne Hektik beginnt, mit einem Pickel ein Loch ins Eis zu schlagen. Als es groß genug ist, schöpft er mit einem Blechkrug Wasser. Blechkrug um Blechkrug um Blechkrug um Blechkrug füllt er den Kanister – seine Arbeit ist Meditation. Ich könnte ihm stundenlang zusehen.
Tsangbu ist der Sohn des Yak-Mannes Karsang. Yak-Männer, das sind tibetische Hirten, meistens Nomaden, die mit ihren Hochlandtieren durch das Land ziehen, immer auf der Suche nach Gras. Die Mount-Everest-Expeditionen sind für sie eine willkommene Möglichkeit, Geld zu verdienen. Mit ihren Yaks transportieren sie Lasten und helfen überall da, wo Hilfe benötigt wird. Die Yak-Männer sind den Sherpas hierarchisch unterstellt und kommen in großen Höhen nicht zum Einsatz.
Tsangbus Vater, Karsang, ist allerdings eine Ausnahme. Vier Jahre lang hat er für Russell gearbeitet und fiel diesem nicht nur durch seine Loyalität und sein Engagement auf, sondern auch durch sein großes Interesse an der Arbeit der Sherpas. Eines Tages fragte Karsang Russell, ob es ihm, als Yak-Mann, wohl jemals möglich sein würde, auf der Muttergöttin der Erde zu stehen. Russell hat ihm dies ermöglicht. Karsang stand am 23. Mai 2001, zusammen mit Robert Bösch, auf dem Dach der Welt. Als erster Yak-Mann überhaupt. Er hat damit zwar keine Schlagzeilen geschrieben, aber er ist zu einem Top-Sherpa geworden, ist heute ein angesehener Hochträger und Bergsteiger. Und so gut bezahlt, dass seine ganze Verwandtschaft nicht mehr in bitterer Armut leben muss.
Karsang brachte seinen Sohn einfach mit. Russell hat ihn zum Wasserträger erkoren. Eine weitere Einnahmequelle für die Familie.
Tsangbu hat hüftlange, tiefschwarze Haare, die er mit rotem Garn zu einem Zopf flicht. Zusammengehalten wird dieser tibetische Haarschmuck von einem Stück Yak-Horn. Manchmal wickelt Tsangbu den Zopf am Hinterkopf zu einem Knoten, manchmal lässt er ihn hängen. Dann fallen die Spitzen seiner Haarpracht bis auf sein Gesäß.
Tsangbu ist ein Mensch, dessen Lachen von ganz tief innen kommt. Er lacht nicht nur mit dem Mund und den Augen, er lacht, so scheint es mir, mit seinem ganzen Körper. Nein, er lacht mit seiner Seele, er strahlt Lachen aus. Lächelt er mich an, möchte ich ihn jedes Mal in die Arme schließen und sagen: »Du kleiner großer Mann, pass auf dich auf.«
Das Wasser, das er jeden Tag anschleppt, ist nicht nur zum Kochen und Trinken bestimmt, sondern auch zum Duschen, denn hier im Basislager haben wir sogar das: den Luxus, duschen zu können. Doch da das Wasser zuerst aufgekocht und dann zur Dusche getragen werden muss, verzichten wir, wenn immer möglich, darauf.
Will ich mich waschen, gehe ich zum Fluss, suche mir einen ungestörten Platz, schlage ein Loch ins Eis – und schnappe, wenn das kalte Wasser meinen Körper und vor allem meine Kopfhaut berührt, jedes Mal nach Luft. Als ich beobachte, dass die Männer für ihre morgendliche Rasur im Kochzelt warmes Wasser holen, schließe ich mich ihnen an, hole mir auch ein Becken und staune, wofür zwei, drei Liter Nass reichen: Körper waschen, Haare waschen, Wäsche waschen. In dieser Reihenfolge – alles in ein und demselben Becken. Und wo wir gerade bei der Körperhygiene sind: Unsere Toilette ist eine Tonne aus Plastik, auf die eine WC-Brille geschnürt wurde. Die Tonne befindet sich in einem kleinen Zelt und ist ausschließlich für unseren Kot bestimmt. Wasser lassen wir hinter Steinen. In der Höhe lernt man, die Dinge voneinander zu trennen. Die vollen Tonnen werden gelagert und zusammen mit dem Müll aus den oberen Lagern am Ende der Expedition entsorgt.
Das Antibiotikum, das meinen Husten lindert, tut meinem Darm nicht gut, der Durchfall, unter dem ich leide, macht meine Situation schwieriger, als sie sein müsste. Und zwingt mich überdies dazu, noch mehr zu trinken. Drei bis vier Liter pro Tag sollten hier – auf 5200 Metern – mindestens getrunken werden, um in der trockenen Höhenluft nicht zu dehydrieren, also auszutrocknen. Wer genügend trinkt, wird weniger krank und wirkt den Kopfschmerzen entgegen. Die Flüssigkeit hilft dem durch die vermehrten roten Blutkörperchen zähflüssig gewordenen Blut, durch die Adern zu fließen.
Am Abend nach der Puja-Zeremonie bleibe ich – zusammen mit den vier Führern Russell, Andy, Asmus und Chris – im Esszelt sitzen. Es ist halb acht, und draußen herrscht finstere Nacht. Wir trinken Whisky, erzählen von unserem Leben, stoßen an und hören schließlich nur noch Russell zu, dem Mann, der ansonsten nicht viel spricht. Es scheint, als wolle er durch sein Erzählen Erinnerungen erträglicher machen.
Zum Beispiel die Erinnerung an Marc, der unbedingt auf den Mount Everest steigen wollte. Weil Marc jedoch das Geld für den erfahrenen und gefragten Führer Russell fehlte, schloss er sich einer Billigexpedition an. Russell und Marc waren zur gleichen Zeit am Mount Everest. Marc war ein großer, starker, schwerer Mann, einer, der viel essen mochte. Immer wieder besuchte er Russell während seines Aufenthaltes im vorgeschobenen Basislager, setzte sich zu ihm, trank Tee mit ihm und aß dabei all die Süßigkeiten, die ihm offeriert wurden. Und zwar ohne einen Krümel übrig zu lassen. Marc, das war offensichtlich, hatte Hunger.
In dieser Höhe ist es wichtig, ausreichend zu essen, denn der Körper braucht sehr viel Energie. Selbst beim Nichtstun. Ich habe mir zu Hause ein paar Kilo angefressen und merke schon jetzt, wie sie dahinschmelzen. Und dies, obwohl Latschu, der nepalesische Koch, uns wunderbar verwöhnt. Mit viel Gemüse und Spaghetti, die Biss haben. Sogar Pommes frites zaubert er auf den Tisch.
Latschu ist nicht nur ein Kochkünstler, er ist auch ein Schlitzohr, gewieft und interessiert und längst mit unserer westlichen Lebenseinstellung vertraut. Als einer der wenigen hier weiß er, dass ein Dollar für uns den viel geringeren Wert hat als für einen Tibeter. Er verhandelt immer zu Gunsten der Yak-Männer, die neben ihren Hochlandtieren Dinge wie Teppiche, Steine oder Glöckchen ins Basislager bringen, um uns diese zu verkaufen.
Latschu füllt nicht nur unsere Teller, er füllt das Esszelt mit seiner ganzen Person, ist ein witziger, fröhlicher Unterhalter, der es liebt, sich mit uns an den Tisch zu setzen. Schon viele berühmte Bergsteiger, unter ihnen Reinhold Messner und Erhard Loretan, hat er bekocht. Ein hervorragender Koch und gute Nahrung haben ihren Preis. Leider hatte Marcs »Dumping«-Expedition nicht nur am Koch, sondern auch am Essen gespart.
Marc nahm ab. Und zwar in solch kurzer Zeit, dass man ihm dabei zusehen konnte. Er wurde von Tag zu Tag schwächer, schaffte