Gabriella Baumann-von Arx

Schritte an der Grenze


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Huhn. Ich gab ihm die Notiz von Stephan zu lesen, doch die war auf Deutsch verfasst – keine Chance. Ich erinnerte mich an das Kroki, das Stephan gezeichnet hatte, nahm es hervor, zeigte mit dem Finger darauf, sagte wieder und immer wieder »gringo – amigo«, bis mich der Mann schließlich in Ruhe ließ und ich das Zelt beziehen konnte.

      Der Platz war gut gewählt, er gefiel mir. Ich richtete mich ein, schlief, aß, lernte Leute kennen und ein paar Brocken Spanisch. Doch bald wurde ich unruhig, die Ameisen machten sich bemerkbar, und ich entschied mich, schon mal dreißig Kilo Gepäck, unter anderem ein Materialzelt, ins Basislager des Fitz Roy zu schleppen, damit bei Stephans Rückkehr schon einige Vorkehrungen getroffen wären.

      Mit meinem schweren Gepäck im Lager Rio Blanco angekommen, fühlte ich mich ungewöhnlich erschöpft. Ich setzte den Rucksack auf den Boden und spürte plötzlich ein Kribbeln in meiner linken Körperhälfte. Dieses Kribbeln, das man verspürt, wenn einem ein Bein oder ein Arm »einschläft«. Bald war die ganze Körperhälfte eingeschlafen, fühlte sich an, als wäre sie in dicke feuchte Lumpen gehüllt. Ich konnte kaum mehr gehen.

      Das Lager, das ich erreicht hatte, befand sich in einem kleinen Wäldchen, das aus niedrig gewachsenen Buchen bestand, die von dem ständig wehenden, rauen Wind ganz verkrümmt waren. Zwischen diesen Bäumen erspähte ich zwei Menschen. Ich humpelte auf sie zu, stellte mich ihnen als »Evelyne from Switzerland« vor. Es waren zwei Finnen, die ziemlich frustriert und äußerst erschöpft waren, da sie am Fitz Roy von einem Sturm überrascht worden waren, der sie ganz schön durchgeschüttelt haben musste. Hier, im Rio Blanco, wollten sie neue Kräfte sammeln, um es später nochmals zu versuchen.

      Erst als sie ihre Erzählung beendet hatten, bemerkten sie, dass ich ziemlich elend aussah. Der eine bot mir eine Zigarette an, der andere kochte Wasser auf, um mir einen Schwarztee zu brauen. Kaum hatte ich einen Schluck davon getrunken, machten sich rasende Kopfschmerzen breit. So stark, dass die Bilder vor meinen Augen zu flimmern begannen.

      Der eine Finne war sichtlich beunruhigt und rannte weg. Als er zurückkam, hatte er einen »doctor from Switzerland« in seinem Schlepptau. Der Arzt war auf einem Pferdetrekking. Er stellte mir Fragen über Fragen. Ich konnte nur mit Mühe antworten. Er diagnostizierte eine starke Migräne, sagte, ich solle umkehren, zurück ins Dorf gehen und dort eine gewisse Carolina aufsuchen, das sei eine Krankenschwester, die mir im Notfall helfen könne. Dann verabschiedete er sich von mir.

      Die beiden Finnen kümmerten sich rührend um mich, stellten sogar mein Materialzelt auf. Ich spürte, wie die Kopfschmerzen von Minute zu Minute stärker wurden und die eingeschlafene Körperhälfte langsam Lähmungserscheinungen zeigte.

      Dann, innerhalb weniger Minuten, wichen die Schmerzen, und das Gefühl im Körper kehrte zurück. Also machte ich mich auf den Rückweg nach Chaltén. Mutterseelenallein. Ich überquerte ein fast ausgetrocknetes Bachbett, zwanzig Meter breit und lehmig, ging durch einen Wald, der voll war von diesen kleinen knorrigen, sehr kräftigen Buchen, die sich tagein, tagaus gegen das kalte Klima und die ständigen Stürme wehren müssen. Ich ging weiter und weiter.

      Plötzlich fühlte ich, dass mich etwas begleitete. Etwas Fremdes, etwas, was mir Angst machte, eine Kraft, die sich in mir ihren Platz verschaffen wollte. Etwas, wogegen ich instinktiv anzukämpfen versuchte.

      Ich war nicht mehr allein. Da war ein Gefühl von zwei Identitäten. Eine mir bekannte – mein Ich. Und eine mir unbekannte – eine, die mir meinen Geist zu rauben drohte und die offensichtlich nicht weichen wollte. Ich hatte Angst.

      Es brauchte meine ganze Konzentration, einen Fuß vor den andern zu setzen. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich fühlte mich fremdbestimmt, kämpfte mit allen Sinnen dagegen an, erinnerte mich dann an das autogene Training, das ich früher einmal erlernt hatte. Ich stellte mir vor, über meinem Kopf befände sich ein Panzer aus Plexiglas, der außer Licht nichts zu mir durchließe. Das half. Es ging mir besser, ich konnte schneller gehen, fühlte, wie mich dieses »Glas« schützte, so dass ich wieder klarer denken konnte. Ich begann zu murmeln. Wie ein Mantra sagte ich immer wieder dieselben Sätze: »Ich bin ganz ruhig. Gott hilft mir. Ich bin ganz ruhig. Gott hilft mir.« Zwei Stunden lang. Ich bin ganz ruhig. Gott hilft mir. Über mir das imaginäre Plexiglas, darüber, deutlich spürbar, dieses bedrohende Etwas, diese beängstigende, sich Platz und Raum schaffen wollende Energie. So kam ich langsam zum Dorf. Kaum sah ich, nach einer lang gezogenen Rechtskurve, das erste Hausdach – da war der Spuk vorbei. Von einer Sekunde auf die andere. So, als hätte man mitten in einem schlechten Film einfach den Fernseher ausgeschaltet. Die Energie über mir zerplatzte wie eine Seifenblase. Die Bedrohung war weg.

      Wie von einer schweren Last befreit, lief ich zu meinem Lager und traf auf den jungen Burschen, der mir vor meinem Aufstieg angeboten hatte, für ein paar Pesos die Hälfte meiner dreißig Kilo ins Lager zu schleppen, was ich allerdings dankend abgelehnt hatte.

      Ich traf also diesen Jungen, der ein lautes »Hey, Evelyne« schmetterte und mich fragte, wie es mir gehe. Ich sei müde, antwortete ich, sehr, sehr müde, ich wolle nicht reden, sondern ins Zelt. »Warte«, sagte der Argentinier auf Englisch, »warte, ich muss dir etwas erzählen, von Pepo. Kennst du Pepo?« Ich kannte keinen Pepo, wollte auch nichts von einem Pepo wissen, ich wollte ins Zelt. Doch der Junge ließ mich nicht gehen, er wollte reden, erzählen, etwas loswerden: Pepo sei nach einer erfolgreichen Erstbegehung des Piergorgio beim Abstieg auf einem Schneefeld ausgerutscht und dann über eine Wand gestürzt. Er sei tot.

      Wann das passiert sei, wollte ich wissen. »Gestern«, sagte der Junge und verabschiedete sich.

      Ich schleppte mich ins Zelt und tat etwas, was ich nie zuvor und nie danach getan habe, ich verschlief vier lange Tage und ebenso viele Nächte, nur unterbrochen von Hunger und Durst.

      Stephan traf zwei Tage später ein, ließ mich ausruhen und briet mir zur Stärkung Pancakes auf dem Benzinkocher. Er kümmerte sich rührend um mich. Aber am fünften Tag übersprudelte sein Tatendrang, und er wollte wissen, wann wir endlich zum Mount Fitz Roy aufbrächen. Meine Geschichte, die ich ihm erzählt hatte, fand er unglaubwürdig, und er konnte meine Entscheidung nicht nachvollziehen, als ich ihm sagte, dass ich zwar bereit sei, zum Fitz Roy aufzubrechen, dass ich aber beim leisesten Anzeichen einer Irritation umkehren würde. Ich war verängstigt.

      Diese Geschichte erzähle ich Andy am Ende unserer Expedition, er hat mir zugehört und ist dabei eingeschlafen.

      Seine Geschichte mit Irvine, meine Geschichte von Patagonien sind für mich Beweise dafür, dass wir nicht alles verstehen, was um uns herum geschieht. Manchmal ist es einfach da, dieses unbegreiflich Feinstoffliche, so fein wie Seide oder Tüll. Man sieht hindurch. Ein bisschen. Das genügt meist schon. Man kann nicht jeden Schleier lüften.

      5Am vierten Tag im Basislager besuchen uns zwei Mönche des Rongbuk-Klosters, sie kommen, um die Muttergöttin der Erde in einer Zeremonie, die sie »Puja« nennen, dafür um Nachsicht zu bitten, dass wir mit Steigeisen an den Füßen auf ihrem Haupt herumtrampeln werden.

      Die Sherpas haben für diese Zeremonie bereits einen kleinen Altar aus Steinen gebaut und ihn mit Gebetsfahnen geschmückt. Gebetsfahnen, das sind quadratische, verschiedenfarbige Tücher, auf denen Gebete und – in der Mitte – ein Pferd aufgedruckt sind. In der tibetischen Sprache werden sie »Lungta« genannt, was übersetzt »Windpferde« bedeutet. Flattern die Fahnen im Wind, galoppieren die Pferde mit den Segenswünschen in das Universum hinaus, zum Wohle aller lebenden Wesen. Gebetsfahnen sind überall in Tibet anzutreffen, sie sind in der Zeit der Unterdrückung für die Tibeter wohl auch ein Zeichen der Hoffnung, dass die Chinesen bald abziehen und das Land endlich wieder frei werde.

      Die Mönche belegen den Altar mit Büscheln aus Gras oder Korn – ich kann nicht erkennen, was genau es ist – und zünden sie an. Die Büschel brennen nicht, sie motten. Nun spritzen die Mönche erst Wasser in den aufsteigenden Rauch, dann auf all unser Material, das wir zum Ort der Segnung getragen haben. Lange und ausgiebig segnen sie unser Essen, unsere Ausrüstung, die Eispickel, die Steigeisen – und uns.

      Dann setzen sich die beiden vor den Altar und beginnen ihre Mantras zu murmeln. Monoton, in immer gleichem Singsang, lesen sie die Gebetsformeln von einer Tafel ab. Ich verstehe