an ein junges Ehepaar, begrub den Stiefvater, bezahlte die Schulden und bezog dann das erste beste möblierte Zimmer, das sich ihr bot. Zwar war es erbärmlich, kostete aber dafür auch nicht viel – und das war für Silje ausschlaggebend. Denn sie mußte mit dem wenigen Geld, das ihr noch geblieben war, haushalten auf lange Sicht.
Eine Woche später brach sie dann zusammen und kam ins Krankenhaus.
*
Erschrocken fuhr Silje aus tiefem Schlaf auf und starrte verständnislos um sich. Was war geschehen – wie kam sie nur hierher – auf den Sitz dieses komfortablen Autos?
»Nun, Kleine, starr mich nicht so entsetzt an!« hörte sie nun eine lachende Männerstimme. »Wir sind angelangt.«
»Wo angelangt?«
»Zu Hause.«
»Zu Hause…?« lauschte sie den Worten nach. »Ach, so was gibt’s ja gar nicht mehr für mich. Lassen Sie mich doch schlafen – ich bin ja so müde …«
Damit legte sie sich mit einem tiefen Seufzer zurück und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, wie man so sagt. Doch gleich darauf schreckte sie wieder auf, denn ein starker Arm hob sie aus dem Wagen und stellte sie behutsam auf die Füße.
»Na, nun mal hoppla!« sprach dieselbe Stimme jetzt ermunternd, und da war Silje endlich wach.
»Entschuldige, Onkel Philipp«, sagte sie hastig. »Ich war wirklich noch schlaftrunken …«
»Hab ich gemerkt. Und nun mal herein in die gute Stube! Vertrau dich unserm Philchen an, dann bist du bestens aufgehoben.«
Wer dieses Philchen war, sollte Silje erst zum Bewußtsein kommen, als sie sich in einem traulichen Gemach befand, in das sie durch die Halle und über die Treppe hinweg gelangte. Nun stand sie vor einem zierlichen weiblichen Wesen, das freundlich zu ihr sprach: »Kipp nur nicht aus den Schlorrchen, du kleines elendes Wurm! Setz dich hier auf den Diwan, für alles andere sorge ich dann schon.«
Und Philchen tat’s. Ehe Silje sich recht versah, lag sie ausgekleidet in einem Bett, das weich und mollig war. Und ehe sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, schlief sie schon wieder tief und fest, während der Herr des Hauses seine Familie aufsuchte, die sich, außer der dazugehörigen Philine, im Wohnzimmer befand.
Da war zuerst einmal die Gattin des Hünen, eine stille, feine Frau mit gütigem Gesicht unter weißem Haar, dann die Tochter Thea, eine üppige Blondine von vierunddreißig Jahren, die vor Jahresfrist verwitwet war und nun mit ihrem achtjährigen Töchterchen wieder im Elternhaus lebte, weil sie nach dem Tod des Gatten vor dem Nichts stand.
Denn auch sie hatte dem geliebten Mann ihre reiche Mitgift bedingungslos in die Hände gegeben, die dieser jedoch erst angriff, als das Rauschgift ihn erbarmungslos in seinen Krallen hielt. Außerdem mußte man in den letzten Jahren von dem Geld noch leben, weil der Privatdozent seinen eigentlichen Beruf aufgeben mußte. Und was er dann mit kleinen schriftstellerischen Arbeiten verdiente, war gewiß nicht viel. Er siechte langsam dahin, und als er starb, mußten Frau und Kind im Hadebrecht-Haus Zuflucht suchen.
Thea war eine phlegmatische Natur und gefiel sich darin, in »höheren Regionen zu schweben«. Konnte aber auch wiederum recht erdgebunden sein, wenn es um Geld ging. Sie hatte immer Angst, irgendwie zu kurz zu kommen.
Also hatte das Ehepaar Hadebrecht an dieser Tochter nicht viel Freude. Nur ihr Jüngster, der jetzt dreißigjährige Eike, war so geworden, wie die Eltern es erhofften – bis auf seine Ehe, damit machte auch er ihnen Kummer.
Sie paßte aber auch gar nicht zu dem ernsten, zielbewußten Mann, die brünette, kapriziöse Ilona, die sich den »schönen Eike« nun mal in ihr eigenwilliges Köpfchen gesetzt hatte und ihn dann auch nach – vielen geschickten Bemühungen einfing. Denn der damals Sechsundzwanzigjährige, der gerade seinen Dr. jur. gemacht hatte, war noch zu wenig Frauenkenner, um die listige Ilona zu durchschauen. Ihm gingen erst die Augen nach der Hochzeit auf – und zwar schon bald.
Ilona jedoch war zuerst so richtig glücklich, bis sie dann merkte, daß der Gatte sich nicht von ihr beherrschen ließ, wie sie erwartet hatte. Da begann sie, ihm Szenen zu machen, die aber an seiner Gelassenheit abprallten wie an einem Felsen.
Außerdem behagte der launenhaften, sehr verwöhnten Ilona das Leben in dem Hadebrecht-Haus nicht, das so ganz von dem Willen ihres Schwiegervaters beherrscht wurde. Sie konnte diesen »Despoten« nicht ausstehen und setzte ihm immer Widerstand entgegen, wobei sie jedoch stets den kürzeren zog. Und wenn sie dann vor Wut zu platzen glaubte, packte sie ihre Koffer und reiste zu ihren Eltern, die ständig unterwegs waren, schloß sich ihnen an – um schon nach einigen Wochen wieder plötzlich im Hadebrecht-Haus aufzutauchen.
Für eine Weile fand sie es dann ganz erträglich in dem »Eulennest«, wie sie das komfortable Haus oft in ihrer Wut nannte – bis sie ihm wieder entfloh. Also ein ewiges Auf und Ab, das von dem Gatten nebst seiner Familie schon längst nicht mehr tragisch genommen wurde.
Nicht einmal von dem jetzt zweieinhalbjährigen Töchterchen, das die Mutter durchaus nicht vermißte, weil es im Schoß der Familie so viel Liebe fand, wie sie ein Kind nun einmal haben muß, um recht gedeihen zu können.
Heute jedoch war Ilona anwesend und hörte mit an, was der Herr des Hauses seiner Familie zu sagen hatte. Daß er die Stieftochter seines verstorbenen Sohnes ins Haus holen wollte, hatte er kurz vor seiner Abfahrt bereits erklärt. Jetzt erzählte er knapp, wie er das Mädchen vorgefunden hatte und daß es nach dem schweren Nervenfieber erst mal guter Pflege und gründlicher Erholung bedurfte.
»Also, nun wißt ihr Bescheid«, schloß er seinen Bericht. »Ich bitte mir aus, daß ihr der Kleinen freundlich entgegenkommt, die jetzt hier ihr Zuhause haben soll. Habt ihr mich verstanden?«
Wie bei einem grimmigen Feldherrn schossen seine Blicke unter den buschigen Brauen hervor, so daß man nicht aufzumucken wagte. Nur Ilona, die schien sich dieser »Despotie« wieder einmal nicht beugen zu wollen. Die dunkelgrauen Augen funkelten vor Aufsässigkeit, über die rotlackierten Lippen kam es entrüstet: »Du kannst doch unmöglich von uns verlangen, Papa, daß wir diesem hergelaufenen Mädchen …«
»Halt den Mund!« fuhr der Mann hart dazwischen. »Hier geschieht, was ich anordne. Wenn dir das nicht paßt, kannst du ja wieder mal deine Koffer packen!«
»Philipp –«, mahnte die Gattin leise, und da wandte er unter ihrem bittenden Blick den seinen ab.
»Ist doch wahr!« brummte er. »Es ist einfach eine Infamie, das Mädchen als hergelaufen zu bezeichnen, das die Stieftochter meines verstorbenen Sohnes ist und einem untadeligen Haus entstammt. Die Kleine hat sich doch wirklich vornehm genug benommen, indem sie diesen Stiefvater, den sie hätte eigentlich verachten müssen, weil er sie durch seine verschwendungssucht an den Bettelstab brachte, mit ihrer Hände Arbeit unterhielt. Die gar noch die Wohnung verkaufte, um ihm ein anständiges Begräbnis geben zu können, und selbst in einer Elendsbude unterkroch. Ich glaube nicht, daß sie mir so widerstandslos hierher gefolgt, wenn sie nicht so erbärmlich schwach und elend wäre. Denn Thomas hat ja in seinem Abschiedsschreiben ausdrücklich bemerkt, daß seine Stieftochter sehr stolz und eigenwillig ist. Die wird sich bestimmt nichts von uns schenken lassen, darauf könnt ihr euch verlassen!«
Nach diesen scharfen Worten wagte selbst Ilona nichts mehr zu sagen. Die Kinder saßen eingeschüchtert da, weil sie ihren sonst so guten Opapa jetzt fürchteten; selbst die altkluge, von ihrer Mutter sehr verzogene Anka. Sie folgten ihrem Fräulein gern, das eben eintrat, um ihre beiden Schutzbefohlenen zum Abendessen zu holen und hinterher ins Bett zu bringen. Artig sagten sie Gute Nacht, wobei sie sich nur zögernd dem Großvater näherten. Als dieser sie jedoch freundlich anlachte, trollten sie zufrieden an der Hand ihres Fräuleins ab.
Es wurde nun nicht mehr von Silje Berledes gesprochen. Jeder scheute sich, in Anwesenheit des Hausherrn das heikle Thema zu berühren.
Erst als der Gestrenge nach dem Abendessen zum Stammtisch, der jeden Sonnabend stattfand, in die Stadt fuhr, wagte man wieder über den Zuwachs im Hause zu sprechen.
»Ich glaube, mit dieser Silje werden wir noch