alles und lauscht:
»Horcht! horcht!«
»Es war, als klang ein Ruf herüber!«
»Da wieder!«
»Was ist das? da! da!«
Und wieder der angstvolle Ruf! Zwischen den Stämmen des Waldes bewegt sich ein weiß, schimmerndes Etwas. Ein Roß, ein weißes Roß jagt über die Wiese auf den Trautenstein los –
»Die Marie! Die Marie!«
»Zu Hilfe! Hilfe, zu Hilfe! In den Wald, ihm nach, ihm nach! Hilfe, Hilfe, er mordet sie!« ruft Marie, den Schimmel bändigend und halb tot herabsinkend. An allen Gliedern zittert sie und vermag kaum noch zu reden, zu erzählen. Um sie drängt sich das Volk und fragt und schlägt die Hände über den Köpfen zusammen und starrt das fremde, stolze, schnaubende Pferd an. Nun hat die Marie so viel Atem geschöpft, um berichten zu können; ein Schrei geht durch den Haufen der Lauschenden, dann stürzen die Männer zu ihren Büchsen und Hirschfängern, und die Weiber fürchten sich, allein zurück zu bleiben, mit Fackeln schließen sie sich an, und fort eilt der ganze Haufen nach dem wüsten Ort, voran als Führerin die kühne Marie die auch ein blankes Weidmesser in der Hand trägt. Nun wird der Wald durchsucht, weit und breit um das Gemäuer des verwüsteten Dorfes, aber vergeblich ist alles gewesen; als ob die Erde die beiden Fremden verschluckt habe, ist’s gewesen. Todmüde kommen mit dem Morgengrauen die Suchenden zurück zum Trautenstein. Da steht noch immer der Schimmel angebunden am Hofthor; in seinen Satteltaschen forscht man nun und findet ein Paar köstliche, goldene Pistolen und einen Beutel mit Goldstücken, aber durchaus keinen Ausweis darüber, wem das alles gehören mag. Im tiefen Walde haben sie dazumalen sich wenig genug um die Justiz und die Polizei draußen vor den Bergen gekümmert. Sie haben, so zu sagen, ihre eigene Gerechtigkeit gehabt tief im Walde; so haben sie auch in dieser wunderlichen Sache nach eigenem Gutdünken gehandelt und nicht die fürstlichen Beamten und den Fiskus dazwischen kommen lassen. Der Schimmel steht und steht im Stall auf dem Trautenstein, thut auch vorkommende Arbeit; aber niemand fragt nach ihm und fordert ihn ab. So wird er alt und blind, und die Jahre vergehen und er stirbt; – man nagelt zum Angedenken das Hufeisen von ihm an das Schloßthor.
Die herrlichen Pistolen hat der damalige Förster behalten; den Beutel mit dem Golde haben aber alle Leute auf dem Trautenstein der kühnen Magd Marie zuerkannt, da auch nach ihm niemand geforscht hat. Mit diesem Golde hat sich Marie ein Heimwesen gegründet; es hat kein Unsegen darauf gelastet. Das mutige Mädchen hat ihren Liebsten nun freien können, und sie sind sehr glücklich miteinander geworden, sie haben viele Kinder miteinander gezeugt, und jetzt im Jahre 1816 dient wieder eine Magd ihres Namens: Susanne Reußner auf dem Trautenstein. Deren Schatz jedoch, Konrad Wolf, wurde durch das westfälische Kriegsgericht, in welchem auch der Hauptmann Otto von Rhoda saß, zum Tode verurteilt. So laufen seltsam, dem Menschenauge meistens unerforschlich, die Geschicke von Völkern und Individuen durcheinander, und je tiefere Blicke in dies Gewirr zu thun uns vergönnt wird, in desto unabsehbarere Ferne, in desto dunklere Abgründe verliert sich das Auge. Mit dem Schicksal der Nationen legen wir in Demut unser eigenes Schicksal in die Hand der Gottheit und wissen mitten im geheimsten Schauer ahnungsvollen Nichtwissens, daß es einem Auge keine Geheimnisse giebt, nicht im grenzenlosen Weltall, nicht auf dieser kleinen Erde, wo unser Dasein zwischen Freude und Leid, dunkel bewegt einen kurzen Augenblick hinfließt.
Ich weiß es nicht, weshalb Anna von Rhoda dem auf dem Schlachtfelde bei Talavera gefundenen Ännchen gleicht.
Ich weiß es nicht, was mich so fest, so ununterbrochen in den Zauberkreis dieses vielleicht so gleichgültigen Rätsels bannt!
Alle Leute auf dem Trautenstein lieben das Ännchen und freuen sich seiner: nur die Susanne allein blickt noch finsterer als gewöhnlich, wenn ihr das Kind in den Weg kommt. Auch Ännchen wird in der Gegenwart der armen Magd noch scheuer und stiller als sie gewöhnlich ist. Woher kommt diese Antipathie zweier Menschen, welche sich doch nie irgend etwas zu Leid gethan haben können?
Als ich die Susanna darum fragte, gab sie mir eine ausweichende Antwort, wandte sich zu ihrer Arbeit und murmelte etwas, was ich nicht verstand.
Ännchen meinte, sie könne sich nicht wohl fühlen in der Nähe der Magd; aber weshalb, könne sie nicht angeben; es sei ihr unter dem Blick Susannens, als werde die Luft schwerer; – sie könne für dieses Gefühl nichts und fühle recht gut, daß es unrecht sei, also zu fühlen. –
Welch ein wonnig Leben! Die Leute des Waldschlosses gehen ihren Geschäften und Arbeiten nach, ohne sich um den Kollaborator und das Pflegekind des Leutnants Bart zu kümmern; der Leutnant Bart selbst hat nicht das mindeste dagegen einzuwenden, daß sein holdes Pflegekind mit dem lateinischen Schulmeister unbewacht in den Bergen umherstreift: er raucht in Ruhe sein Pfeifchen unter der Linde im Schloßhofe, er weiß, daß sein Kind gut aufgehoben ist unter dem Schutze des Kollaborators Wolkenjäger.
Und über Fritz und Ännchen schüttelt die Einsamkeit des Waldes alle ihre Segnungen und Seligkeiten aus.
Welch ein unaussprechlich selig Ferienleben nach – dem großen Kriege!
Da rauscht mitten in der allertiefsten Einsamkeit ein Wässerchen klar und kühl. Wie von unwiderstehlicher Sehnsucht gezogen, sucht es durch die grüne Dämmerung des Forstes seinen Weg, um sich in wonniglichen Schauern einem anderen lustigen Bach in die Arme zu stürzen. In der düstern Brautkammer einer geheimnisvollen Felsenschlucht geschieht dies; aber jubelnd über die endliche Vereinigung suchen die Wasser sogleich das Tageslicht und die fröhliche Sonne. Zwischen den Felstrümmern und Riesentannen springen sie hervor in ein liebliches Waldthal. Hier hat, ungefähr eine Stunde vom Trautenstein entfernt, ein Köhler seine Hütte aufgeschlagen. Ein schwarzer Meiler dampft daneben, und der schwarze Kohlenbrenner geht darum herum mit seiner Schürstange, die qualmende Pfeife im Munde; voll von Liedern, Sagen und Schnurren. Die Zuneigung Ännchens hat der rußige Gesell in so hohem Grade gewonnen, daß ich fast eifersüchtig auf ihn werden könnte. Fast kein Nachmittag verstreicht, ohne daß Ännchen ihm, seiner Ziege und seinem Meiler einen Besuch abstattet. Das Geschick, welches den Kollaborator Wolkenjäger an das schöne Mädchen gefesselt hat, treibt ihn natürlich ihr auch auf diesen Wegen nach. So kommt es, daß oft bis in die Abenddämmerung hinein, der einsame Köhler die allerbeste Gesellschaft bei seiner Arbeit hat, und eifrige Zuhörer bei allen seinen Geschichten.
Dieser Mann ist die lebendige Chronik des Waldes, und Sage und Geschichte würfelt er nicht mehr, wie jeder andere Historiker, durcheinander. Und er redet gut; – Ännchen und ich lieben den scharfen Duft des frischgespaltenen Tannenholzes, lieben dieses seltsame nachdenkliche Köhlerhandwerk, welches sich so leicht ansieht und so schwer auszuüben ist, – Ännchen und ich lieben den Ton, in welchem der künstliche Köhler seine Sagen und Erzählungen vorträgt. In der schwarzen Hütte des einsamen Mannes hängen an Fäden aufgereiht kunstvoll abgestimmte Holzkohlenstücke, diese weiß unser rußiger Freund anzuschlagen, daß sie eigentümlich melodische Töne von sich geben; zu einer großen Fertigkeit hat er es auf diesem eigentümlichen Musikinstrument gebracht, und den Melodien, welche er darauf hervorbringt, gleichen seine Geschichten ganz und gar.
Das Ännchen findet am meisten Gefallen an seinen Sagen von Nixen, Feien, Kobolden, klugen, guten und bösen Zwergen, verzauberten Prinzen und Prinzessinnen, gewaltthätigen Riesen und Zauberern. Mich interessieren mehr seine historischen Erörterungen, die aber, wie schon gesagt, nie ganz reine Historie sind, sondern immer von der Sage durchwoben.
Ich habe ihn auch nach dem Geschlechte derer von Rhoda gefragt, und er hat mir mancherlei davon erzählt. Einige Stunden gegen Süden liegt auf einem Felsen die Rhodenburg in Trümmern. Von ihr leitet das Geschlecht seinen Namen ab. Der erste Rhodenburger kam unter einem hohenstaufischen Kaiser aus Schwaben in das Sachsenland und baute die Burg. Durch die Jahrhunderte hat das Raubvogelnest der bösen Ritter auf seiner Felsenecke trotzig geklebt, dem umliegenden Lande zum Schaden und Elend. Aber das Geschlecht hat das Schicksal des deutschen Rittertums geteilt; von ihren Höhen sind die Adler und Geier in die Ebene hinab geflattert und sind zum zahmen gefräßigen Gevögel geworden, welches die Throne unserer kleinen und großen Potentaten umgackert und umgirrt. Manch ein Mauerstein der alten stolzen Rhodenburg wurde in das Mauerwerk des Trautensteins eingefügt, und der Trautenstein wurde