Fremdes erschien. In dieser Stimmung trug sie nach des Hauses Gewohnheit die Morgensuppe in des Vaters Stube, wunderte sich auch nicht allzu sehr, als sie dieselbe leer fand. Das kam öfters vor. Manches festverschlossene Gemach hatte der alte Heyliger in seinem zerrütteten Geiste zu bewachen; so konnte er auch jetzt irgendwo nachschauen in einem Winkel, ob nach dem nächtlichen Getöse noch alle verborgenen Schätze und Heimlichkeiten an ihren rechten Orten sich befanden; ob da nicht ähnliche und schlimmere Verwüstungen angerichtet seien wie sonst im Hause.
Nieder saß Laurentia Heyligerin und wartete auf den Vater, und im Warten spann sie von Neuem an den Traumbildern, welche ihr der Schlaf gebracht hatte. Immer leichter, immer wohler ward ihr zu Muthe, immer weiter und lichtvoller ward ihre Seele. Es war ihr, als sei sie die langen dunkeln Jahre hindurch nur ein thörichtes Kind gewesen, welches in grundloser Furcht sich quälte und harmlose Schatten für die drohendsten Gespenster nahm. Es war ihr, als habe dieser großmächtige Sturm in der Nacht vom letzten März auf den ersten April nicht nur die Welt und das Haus zur Silberburg, sondern auch ihre innerste Seele von allem Bösen, von allem Grauen gereinigt und befreit. In diesem Augenblick sah Laurentia Heyligerin in die Zukunft wie in eine sonnige, grüngoldene Landschaft, wo reiche Ernten von Glück und Seligkeit ihr entgegenreiften. Da – fiel ein Schatten auf sie; erschreckt blickte sie empor und streckte mit einem Schrei abwehrend die Hände aus. Vor ihr stand in seinem rothem Mantel, das schreckliche Schwert unter dem Arme tragend, finster und drohend Wolf Scheffer, der Henker.
VII.
»Wo ist Euer Vater, Jungfer?« fragte der Scharfrichter von Rothenburg das zitternde Mädchen, welches sprachlos ihn anstarrte.
»Hat Euch der lustige Wind das Gehör oder die Sprache genommen, Jüngferlein?«
»O, was wollet Ihr?« stöhnte kaum vernehmlich die zum Tod erschrockene Jungfrau; der Scharfrichter aber hob das Haupt, horchte nach der Gasse zu und lachte kurz. In die Gasse hinaus war die alte Magd gestürzt, außer sich über das Eindringen des Freimannes in die Silberburg. Das Volk, das da in Haufen stand und die Aengste der vergangenen Nacht besprach, rief sie auf, und alle Augen richteten sich in starrer Verwunderung auf die Silberburg. Vom Marktplatz herunter kam in diesem Moment der regierende Bürgermeister mit einigen Rathsherren und Schöffen, den durch den Sturm angerichteten Schaden in und um die Stadt zu beschauen. Auch sie erhielten Bericht, daß Wolf Scheffer, der Henker, ein ehrlich Haus beschritten habe, schüttelten die Häupter, besprachen sich einen Augenblick untereinander, und dann schritt der Bürgermeister gegen die Silberburg und trat in die dunkle Thür. Ihm folgten die Rathsherren und die Schöffen und ein großer Theil der Menge; ein noch größerer Haufe wurde freilich durch den Rathsdiener an der Pforte zurückgewiesen.
Durch den verwilderten Garten schlich der schwarze Jürg um Kundschaft nach der Geliebten. Er fand die Hinterthür der Silberburg offen, und eine unerklärliche Macht trieb ihn zu dieser Stunde, in die Wohnung des alten Familienfeindes, dessen Kind er so sehr liebte, einzutreten. Mit geheimem Schauder setzte er den Fuß in das Haus, das einst den Kindlern geeignet hatte, wo so viele Geschlechter seines Namens geboren und gestorben waren. Schon waren die untern Räume voll von den Bürgern und Bürgerinnen von Rothenburg; kaum vermochte Georg sich einen Weg zu bahnen zur Treppe. Mit dem Bürgermeister und den Schöffen stieg er empor und trat mit ihnen in das Gemach des alten Heyliger, und Alle überkam eine ähnliche Stimmung wie den Sohn des Stadtsoldaten auf der Römerhöhe; aber keiner von den Herren stieß solch einen Wuthschrei aus als Georg Kindler, da er den Scharfrichter mit seinem abscheulichen Grinsen vor der halbohnmächtigen Geliebten stehen sah.
Mit einem Sprunge wollte er sich auf den Henker stürzen; aber dieser erhob drohend die Hand und schrie mit donnernder Stimme:
»Zurück! Wer legt die Hand an mich?«
Und zurück wichen die Herren vom Rath, zurück wich das Volk; Laurentia Heyligen warf sich an die Brust Georg’s:
»Schütze mich! Um Jesu Willen, schütze mich, Georg!«
»Treibt den Mann aus diesem Haus, welches sein Fuß besudelt; befehlt ihm, zu gehen. Euer Gnaden!« rief Georg Kindler dem Bürgermeister zu; aber ehe dieser antworten konnte, lachte Wolf Scheffer und rief:
»Wer will den Scharfrichter von Rothenburg aus seinem Eigenthum treiben? Herr Bürgermeister, zu dieser Stell’ fordere ich den Bürger dieser Stadt Christian Jakob Heyliger, im Jahre Sechzehnhundertfünfundsiebenzig Zinsmeister allhier zu Rothenburg.«
»Wer gibt Euch das Recht, solches Verlangen zu stellen? Wer giebt Euch das Recht, in dieses Haus einzudringen? Wisset Ihr nicht, daß –«
Der Scharfrichter zog unter seinem rothen Mantel einen beschriebenen und besiegelten Papierbogen hervor und hielt ihn hoch über die Häupter des Volkes.
»Hier mein Recht! Hat der Teufelswind über Nacht das Dach mir über dem Kopf weggenommen, so muß ich schauen, daß ich ein ander krieg’. Hier mein Recht! Und nun zum letzten Mal: Wo ist Euer Vater, Jungfer Heyligerin?«
»Ich weiß es nicht – o käme er! – Georg, Georg, was ist das? Was ist geschehen? Was soll geschehen?«
»Still, Lieb’, ich bin Dein Schutz hier und überall.«
»Herr Bürgermeister von Rothenburg, nehmt und lest,« sagte der Scharfrichter, dem Herrn das Papier reichend. »Derweilen will ich selbsten Umschau halten nach Christian Jakob Heyliger und ihn herschaffen, daß er mir mein Recht gebe.«
Auseinander wich die Menge, und der Scharfrichter schritt aus der Thür, das vergilbte Papierblatt in der Hand des Bürgermeisters zurücklassend. Dem kaiserlichen Notarius Cyprian Schnäubele reichte der regierende Herr das inhaltschwere Document.
»Leset Ihr, Gevatter. Meine Augen sind zu blöde, und meine Brille lieget zu Hause.«
Einen fliegenden Blick warf der Notarius über das Papier, die Unterschriften und Siegel, dann zuckte er die Achseln, wie sie nur ein Advokat zucken kann, und schnitt eine Grimasse, wie sie ebenfalls nur ein Advokat schneiden kann.
»Traget vor, Herr Doctor!« riefen in athemloser Neugier die Rathsherren und der Notarius las laut:
»Ich Johann Gottlieb Riecher J. U. Licent. notarius caesarius publicus bezeuge und bescheinige durch meine Unterschrift und Beisetzung meines Notariatssigills, wie folget:
Am ersten Aprilen in diesem Jahr, nach Christi Geburt 1675, ist ein Part aufgerichtet und rechtskräftig gemachet zwischen den Herren, Herrn Christian Jakob Heyliger, Bürger und Zinsmeister in kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg im Thal einerseits und Traugott Gottlieb Scheffer, kaiserlichem Kammergerichtssecretarius zu Regensburg, andererseits.
Sintemalen obengenanntem Herrn Christian Jakob Heyliger obenbenannter Herr Traugott Gottlieb Scheffer, Secretarius, in einem allhier geführten Prozess Heyliger contra Kindler mit Rath und That so hilfreich zur Hand gegangen ist, daß besagter Chr. J. Heyliger besagtem T. G. Scheffer nimmer genug danken und lohnen kann: so ist zwischen besagtem Chr. J. Heyliger und besagten T. G. Scheffer verbrieft und besiegelt, wie folgt:
I. Zahlt am heutigen Datum Herr Chr. J. Heyliger dem ReichskammergerichtsSecretarius Herrn T. G. Scheffer fünfhundert Gulden in guter Müntz.
II. Zahlt derselbe Chr. J. Heyliger demselben T. G. Scheffer fünfhundert Gulden an dem Tag, an welchem besagter Chr. J. Heyliger Besitz nimmt von dem Haus, benannt zur Silberburg, in kaiserlicher freier Reichsstadt Rothenburg im Thal.
III. Dieweilen aber des Menschen Fleisch ist wie Heu und seine Güter nicht haften in Einer Hand, so ist ausgemachet und beschlossen, daß am ersten Aprilen Siebenzehnhundertfünf als nach einem Menschenalter, vom heutigen Tag an gerechnet dreißig Jahre, dem obenbenannten ReichßkammergerichtsSecretarius Traugott Gottlieb Scheffer, oder dessen dann lebenden Erben und Rechtsnachfolgern obenerwähntes Haus zur Silberburg in kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg im Thal mit allem Zubehör, Lasten und Rechten von obenbenanntem Christian Jakob Heyliger oder dessen Erben gutwillig und ohne Widerrede