Tage zu spät ist dieses Schriftstück vorgewiesen, Meister!« rief der Doctor Schnäubele. »Im Jahr nach unseres Herrn und Erlösers Geburt Siebenzehnhundert ist das Edict glorreicher kaiserlicher Majestät Leopoldi Primi der verbesserte Gregorianische Kalender eingeführet worden, und die Einführung von allen Canzeln abgelesen, auf allen Wegen und Kreuzwegen des Reiches verkündiget. Wer kann dawider sprechen? Null und nichtig! Null und nichtig!«
»Null und nichtig!« riefen Bürgermeister, Rathsherren, Schöffen und Volk, und der Scharfrichter nahm ruhig das Schriftstück aus der Hand des Notars.
»So höret, Ihr Herren von Rothenburg!« rief er und eine Todtenstille trat vor seinem Worte ein. Im Kreise blickte er umher, hob das Papier und sagte:
»Aufgebe ich hiermit dieses Recht – da!«
Das Document fiel zerrissen zu Boden, – und ein Ruf des Erstaunens brach aus unter den Teilnehmern dieser Scene; dieser Ruf erstarb aber auf den Lippen, denn in demselben Moment warf der Scharfrichter den Mantel zurück, das breite, blitzende Schwert funkelte über den Häuptern des Volkes:
»Ein Recht verloren, gewonnen das andere! Mein die Silberburg und mehr als die Silberburg! Raum dem Scharfrichter und seinem Recht! Folgt und seht, Ihr Herren von Rothenburg!«
Aus dem Gemach schritt der Henker, das Schwert über die Schulter; ihm nach drängten alle Anwesenden die Treppe hinauf, welche in die obersten Räume des Hauses führte. Georg legte sachte die Geliebte in die Arme der alten Magd. Auch er eilte den Andern nach, und vor dem Geschrei, welches von oben, von dem Bodenraum hinabdrang, erstarrte ihm das Blut in den Adern.
Durch das verwahrloste Hausdach schien überall ungehindert die Sonne, der Fußboden war immer noch überschwemmt. von dem in der Sturmnacht eingedrungenen Regenwasser. Kisten und Kasten, alter Hausrath, Bretter und Plunder versperrten überall den Weg; in einem Winkel stand Wolf Scheffer und um ihn das erstarrte Volk. Von einem Balken herab hing die Leiche Christian Jakob Heyliger’s, und um sie standen Truhen von Geldsäcken und Pergament, goldenen und silbernen Kostbarkeiten aller Art – ein gewaltiger Reichthum.
Und zu dem Leichnam sprang der Scharfrichter, umfaßte ihn mit dem linken Arm und rief:
»Raum für des Henkers Recht!«
Mit dem Richtschwert beschrieb er auf dem Boden einen weiten Kreis um die Leiche, und in den Kreis fielen die Kisten und Truhen, die Pergamente, die silbernen Schüsseln und Becher, die goldenen Ringe, Ketten und Spangen.
»Kennt Ihr des Scharfrichters Recht, Ihr Herren von Rothenburg?« rief er mit wildem Frohlocken. »Was an des Selbstmörders Leiche in den Kreis fällt, den des Scharfrichters Schwert zieht, ist des Scharfrichters! Herr Notarius, wollt Ihr gegen dieses Recht auch Euer Wörtlein sagen? Hoho, gebt dem Scharfrichter sein Recht – hier! hier!«
Neben dem Erhängten niederknieend fing der Mann im rothen Mantel an, in den Truhen, welche sein Eigenthum geworden waren, zu wühlen. Triumphirend hielt er dem Bürgermeister, den Rathsherren, dem Doctor Schnäubele ein Document mit klappernden Silberkapseln nach dem andern unter die Nase.
»Hier die Silberburg, mein, mein! Hier die Aecker am Gretchenkopfe, mein, mein! Hier der Weinberg zur wilden Hütte, mein! Hier die Wiesen im Hasenthal, Alles, Alles mein!«
Keiner der Zuschauer konnte ein Wort hervorbringen; nur der kaiserliche Notarius sagte:
»Schneidet die Leiche ab, Meister Scheffer. Ihr seid der reichste Mann zu Rothenburg im Thal! Dieses Recht ist nicht anzugreifen. Fiat justitia!«
Damit wandte sich der Rechtsgelehrte und ging.
Mit dem Richtschwert durchsägte der Henker den Strick, welcher den Erhängten in der Luft hielt. Schwer fiel der Körper zu Boden, und in dem Gemach darunter fuhr die Tochter über den dumpfen Ton zusammen und sank in eine neue wohlthätige Ohnmacht.
Seit Menschengedenken war kein Selbstmord in kaiserlich freier Reichsstadt Rothenburg vorgefallen, deshalb machte der jetzige, der noch dazu unter so seltsamen Umständen stattgefunden hatte, den aller größesten Eindruck auf das Volk.
Zurück wichen Alle. Niemand hielt es aus in dem unheimlichen Hause. Niemand glaubte darin länger Athem holen zu können. Die Silberburg ward leer, und todtenstill ward es drin. Auf dem Hausboden blieb der Scharfrichter mit der Leiche und den Schätzen allein zurück. Wolf Scheffer war der Einzige, welcher von dem Gefühl, als ob Wände und Decken des alten Gebäudes zusammenbrechen müßten, nichts wußte.
An der Brust des schwarzen Jürgen lag die arme Laurentia, und der Geliebte duldete nicht, daß die Tochter noch einmal die entstellte Leiche des unglücklichen Vaters zu Gesicht bekam. Wie ein Kind trug Georg die Braut durch den wilden Garten, die Römerhöhe hinan zu dem alten Thurme, wo der nichtsahnende Vater in glücklichem Frieden saß, in die blaue, blitzende Ebene hinausblickte und das belehrende Haushaltungsbuch auf seinen Knien fast ganz vergessen hatte. Es kostete viel Mühe, ihm das Geschehene klar zu machen, und im nächsten Augenblick hatte er es doch wieder vergessen und umschlich verwundert-zärtlich die weinende schöne Jungfrau, die so plötzlich sich in seinem Thurmgemach eingefunden hatte.
Nachdem Georg und Laurentia die Silberburg verlassen hatten, ging auch die alte Magd daraus weg, und mit dem Leichnam hatte von da an Wolf Scheffer das Reich allein darin. In das Gemach Christian Heyliger’s trug er Geld, Documente und Kostbarkeiten; die Leiche ließ er an ihrer Stelle bis der Sarg und die Grube im Winkel der Selbstmörder an der Kirchhofsmauer fertig waren. Im Triumph schritt er hin und her und baute die phantastischen Luftschlösser künftigen Glanzes, während seine Tritte dumpf wiederhallten in den öden Räumen. Nach Frankreich wollte er mit seinen Schätzen ziehen, der König Louis brauchte solche Männer wie er; der Krieg konnte ihn noch zum großen Herrn machen; – der Träumende malte sich aus, wie er einst mit der Maison du Roi einrücken werde in die Stadt Rothenburg im Thal. Unter seinen Fußtritten erzitterte der Boden, den rothen Mantel und das breite Schwert schleuderte Wolf Scheffer weit von sich in einen Winkel und lachte: »Diese Komödia ist aus, dieser Spaß ist bald zu einem guten Ende gekommen. Palsambleu, wir wollen in Kurzem einen andern Degen an die Hüfte stecken –
Marlbrouck s’ en va-t-en guerre;
Mirotan, Mirotan, Mirotaine!
Ne sais quand reviendra,
Miroton, tonton, mirotaine!«
Stunde auf Stunde verfloß. Den jetzigen Eigenthümer der Silberburg überkam der Hunger; aber er begnügte sich mit einer Brodrinde und holte sich selbst einen Trunk Wasser dazu aus dem Brunnen im Hofe; dann setzte er seine Gänge durch das hallende Haus fort. Er blickte aus den Fenstern, die auf die Gasse gingen, und zog eine spöttische Miene über die Haufen, die den ganzen Tag über vor der Silberburg lungerten und nach dem alten Gebäude starrten. Das Volk sah ihn am Fenster und flüsterte und steckte die Köpfe zusammen; aber er lachte. Er lachte noch toller, wenn er an den schwarzen Georg vom Regiment Montecuculi dachte. Dem hatte er es nun heimgegeben.
Und es ward Abend, dann dunkle, warme, stille Nacht.
Im Lug in’s Land auf der Römerhöhe lag der Vater Kindler längst im festen Schlaf; auf der Plattform neben der alten Karthaune standen Georg und Laurentia, hielten sich fest umschlungen und blickten in die Nacht hinaus. Im tiefen Dunkel lag die Stadt, die Silberburg und der todte Vater. Kein Lüftchen regte sich, still, ganz still lag die Natur, wie erschöpft nach dem Aufruhr der vergangenen Nacht. Leise Trostesworte flüsterte Georg der Geliebten in’s Ohr, in’s Herz, und immer fester klammerte sich das Mädchen an den starken Mann und schluchzte krampfhaft:
»Verlaß mich nicht, o verlaß mich nicht!«
»Nimmer, nimmer!« rief Georg Kindler, und auch ihm traten die Thränen in die Augen.
Wieder hatte der Nachtwächter im Thal seinen Vers für die zehnte Stunde gesungen:
»Nacht und Tag, Tag und Nacht
Gottes Aug’ im Himmel wacht;
Hört, Ihr Herren, hört, Ihr Frau’n,
Gut Gewissen wird nicht grau’n
In der