hier Gustav ein, den gefallenen Engel des Juristen aufhebend. »Sie sollen fürchterlich gerächt werden, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort! Peter Holzmann, Bamboccio, Ungetüm! ein schreckliches Los harrt morgen deiner! – Mein Fräulein, Sie haben sich doch nicht weh getan? Wollen Sie eine kalte Messerklinge auflegen, das soll gut sein gegen Beulen? – Fräulein Julie, geben Sie doch gefälligst dem dicken Ungeheuer an Ihrer Seite einen tüchtigen Nasenstüber als Vorgeschmack! – Krippenstapel, sei’n Sie ein guter Kerl und fangen Sie keinen Lärm an; kommen Sie, lassen Sie sich von Ihrer Dame eine Stecknadel geben, ehe Sie weiterschweben. Vergessen Sie’s nicht, es ist wichtig; ich als Ästhetiker muß das wissen!«
Ein allgemeines Gelächter löst die Sache in Wohlgefallen auf. Krippenstapel schleicht mit seiner Stecknadel ingrimmig ins Gebüsch; seine Dame verkündet hinter ihrem Taschentuch, keine kalte Messerklinge anwenden zu wollen; Peter Holzmann stolpert mit Fräulein Julie zu einem Sitz, und alle übrigen Paare ordnen sich zu einem neuen Tanz.
Schon während des Verlaufs dieser Szene habe ich mich gewundert, nirgends Elisens Lockenkopf hervorlugen zu sehen, nirgends ihr helles Lachen zu hören; als nun ein neuer Tanz beginnt und sie auch jetzt nicht erscheint, wird mir die Sache bedenklich.
»Gustav, heda hier! Wo hast du denn meine Liese gelassen?«
»Ich? – Onkel, fragen Sie lieber: wo hat dich die Liese gelassen. Sie behauptet böse zu sein und ist mit Fräulein Henriette Frey weggelaufen, nachdem sie mich einen – einen ›Teekessel‹ genannt hat.«
»So? – Was habt ihr denn wieder vorgehabt?«
»Ich kann mich auf weiteres nicht einlassen!« sagt der »denkende Künstler«, zieht ein wehmütig-sein-sollendes Gesicht und verschwindet unter der Menge.
»Wenn die Sachen so stehen«, lacht der alte Frey, »so werden die Mädchen jetzt wohl bei der Wäsche und Theologie sitzen. Kommen Sie, wir müssen uns doch erkundigen, was der Friedensstifter (machte er seine Sache nicht prächtig?) da für Unheil und Unfrieden angestiftet hat!«
»Ich kann’s mir schon vorstellen«, brumme ich in den Bart, und so schlagen wir uns seitwärts ins Gebüsch und gelangen zu unserm Tisch zurück.
»Richtig, da sitzen die Turteltäubchen!« ruft der Professor. »Wie andächtig sie dem Oberlehrer Besenmeier zuzuhören scheinen und doch ganz wo anders sind! Kurre, kurre, kurre, Fräulein Elise, mein Täubchen, was hat Ihnen denn ein gewisser – hm – gewisser ›Teekessel‹ getan?«
»Wer?« fragt Lieschen, die sich dicht an die Tante gedrängt hat und von ihr mit einem gewaltigen Tuche umwickelt ist, während Henriette an ihrer andern Seite emsig sich mit ihrer Teetasse beschäftigt.
»Wer? fragst du!« nehme ich das Wort. »Nun, wir begegneten eben jemand, der ziemlich nahe am – ›Überkochen‹ war.«
»Ach, du meinst den Vetter! – Pah – der!«
»Nun, was hat’s gegeben? Tante Helene, hat sie Ihnen vielleicht schon ihr Herz ausgeschüttet?«
»Nein!« sagt die Tante. »Haben sie sich wieder gezankt?«
»Es scheint so! Fräulein Henriette, Sie wissen gewiß etwas Näheres davon?«
»Soll ich’s sagen, Lieschen?« fragt kichernd Henriette, ihre Freundin am Ohr zupfend.
»Meinetwegen!« sagt Elise, mit einem Gesicht wie Menschenhaß und Reue einen Nachtschmetterling verscheuchend, der ihr um den Kopf flattert und mit aller Gewalt sich in ihren Locken fangen will.
»Er hat – Herr Gustav hat gesagt: – wenn er ihr nicht die Tänzer schicke und Propaganda (ich glaube, so heißt’s) für sie mache, so würde sie – ihr Lebtag außer ihm keinen kriegen. Sie müsse daher hübsch dankbar und zuvorkommend gegen ihn sein und« –
Ein Ausruf des Entsetzens entringt sich allen.
»Abscheulich!« ruft die Tante Berg. »Finis mundi!« lacht der Rektor Dippelmann. »Schändlich!« ächzt die Frau Rektorin; »Gräßlich!« die Frau Dompredigerin. »Beim Himmel, das ist stark!« meint ihr Gemahl. »Das hätte ich nicht gedacht!« brumm ich. »Das soll er büßen«, ruft der Professor Frey, »und…«
»Er büßt es schon!« sagt eine Stimme, und der Übeltäter guckt durch das Gebüsch hinter Elisens Platze. »Teilweise hat er es sogar schon gebüßt!«
Mit diesen Worten windet sich der Blasphemist vollends hervor, schiebt sich ganz sachte zwischen seine Mutter und Elise, die schnell nach der andern Seite rückt, wohin er ihr ebenso schnell folgt. Seinen Arm um sie legend, hält er folgende Rede: »Lieschen, englische Kusine Ralff, ich beschwöre dich, höre mich! – Glaubst du etwa, ich habe, nachdem du jenem Schauplatz eitler Freuden den Rücken gewandt, weitergewalzt? Du irrst! Du irrst! Gute Werke habe ich getan, meine Schuld zu sühnen: den edlen Holzmann – Holzmann, komm mal her und gib mir die Schachtel mit den feurigen Tränen! –, den edlen Holzmann habe ich aus den Klauen des racheschnaubenden Krippenstapels gerettet; Fräulein Thekla Stichel habe ich aus der amüsantesten aller Lagen, oder vielmehr Sitzungen, emporgezogen; als mitten im Contretanz dem Freiwilligen Breimüller der Steg riß und ihm die Unnennbare bis zum Knie hinaufschnurrte, habe ich ihm eine Droschke herbeigepfiffen; kurz überall, wo Tränen zu trocknen waren, war auch ich – wie gesagt, nur um meine Schuld zu büßen. Und hier, Lieschen (Holzmann, gib mir die Schachtel), nicht allein getrocknet habe ich Tränen, auch gesammelt habe ich welche! – Sieh, Lieschen!«
Einen Ausruf der Verwunderung und Freude stößt Elise trotz ihrem Groll aus, als ihr der Bösewicht den Inhalt seiner Schachtel in den Schoß schüttet und unzählige funkelnde, leuchtende Johanniswürmer um sie herum kriechen und schwirren.
Die Lampen sind weit genug entfernt, daß die Tierchen in ihrem ganzen Glanz erscheinen können, und es ist wirklich ein hübscher Anblick – diese besternte Elise!
»Das sind meine Reuetränen, und du – kriegst Tänzer leider zu viel – ohne mich! – und ich bin ein Teekessel und et cetera – Lieschen?! – Lieschen, gucke mich mal an!«
»Taugenichts!« sagt Elise, dem Sünder in die Haare greifend, und – der Friede ist geschlossen! –
War denn der alte Meister Frey an diesem Abend ganz aus Rand und Band? Auf einmal verkündete er, daß er seinen morgenden 69sten Geburtstag (es war der letzte seines Lebens) jetzt feiern wolle, da bei solchen Gelegenheiten das Improvisieren den wahren Genuß und Jubel hervorbringe. Das halbe Atelier machte er halb betrunken, die ganze weibliche Welt ganz angeheitert. Ein Kranz wurde ihm aufgesetzt trotz allem Sträuben – ein Kranz, der nur so sein mußte. Der Domprediger hielt eine Rede, die »verehrter Greis« anfing und ähnlich endete, und Reden wurden losgelassen und Toaste ausgebracht bis zwölf Uhr. Dann erhob sich das alte bekränzte Geburtstagskind, beklagte sich über Nachtkühle und Nachtfeuchte, und – das Fest war vorbei.
Vorbei! Wo sind heute alle die, welche es feierten?
Tot ist der alte Meister Frey, zerstreut in alle Welt sind seine Schüler. Peter Holzmann, genannt Peter van Laar, oder auch Bamboccio, ist 1849 in einer römischen Villa von französischen Plünderern erstochen, als er eine Raphaelsche Madonna vor ihrer Zerstörungswut schützen wollte. Der Domprediger ist noch immer nicht zum Mormonentum übergetreten, und der Oberlehrer Besenmeier hat Fräulein Julie Frey geheiratet und steht – »mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei« – fürchterlich unter dem Pantoffel. Die Frau Rektor Dippelmann knüpft noch wie immer alle Morgen ihrem Gemahl die Halsbinde um, steckt ihm das Butterbrot, in die gestrige Zeitung gewickelt, in die Rocktasche und sieht ihm stolz nach aus dem Fenster, wie er über die Friedensbrücke nach dem Schimmelstädtischen Gymnasium wandelt.
Und Gustav und Elise? – – – Ich werde nachher dieses Blatt der Chronik hinübertragen zu jener schönen ältlichen Frau in Nr. zwölf der Sperlingsgasse, deren Fortepianoklänge sich schon den ganzen Nachmittag über in meine Gedanken verwoben haben. Dann werden wir von Gustav und Elise sprechen!
Am 14. März.
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