stehen auf echt cheruskischem Gebiet, wenn gleich die Cherusker selbst lange den Sachsen Platz gemacht haben!
Jedem deutschen Schulknaben wird die Geschichte der Dido eingebläuelt, daß aber auch der deutsche Boden eine ganz ähnliche Sage aufzuweisen hat, weiß und kümmert niemand. Ich halte es für ein Verdienst, die alte Geschichte an dieser Stelle wieder aufzufrischen, obgleich ich an jenem Morgen, an welchem ich die Heimat zum ersten Mal wieder erblickte, wahrlich nicht daran dachte. – Den Cheruskern waren die Katten gefolgt, diesen die Thüringer im Besitz des germanischen Jagdgrundes, auf welchem heute Finkenrode liegt. Letztere saßen hier, als ein Schiff den Fluß herauf kam, welcher so dicht an der Stadt vorbeifließt, daß er den Fuß des letzt übrig gebliebenen Bollwerks der einstigen Ringmauer bespült. Damals war von der Stadt Finkenrode noch nichts zu erblicken: gewaltige Eichen und Buchen spiegelten sich allein in den gelben Fluten der Weser, und staunend rannten die Bewohner der Wildnis, ob des fremden Anblicks, an dem Ufer zusammen; denn den Thüringern war die Schiffahrt unbekannt, sie waren ein Jägervolk, welches seine Bäche durchwatete, seine größeren Gewässer durchschwamm. Niemals war ein solches schwimmendes Gebäu gesehen, hier zu Lande! Jetzt hielt das Schiff an, ein gerüsteter Krieger trat ans Ufer und grüßte das versammelte Volk zu seinem Erstaunen in einer Sprache ähnlich der ihrigen. Er war blondhaarig und riesenhaften Körperbaues wie sie selbst; aber sein Leib, seine Brust, seine Arme waren mit allerlei wundersamen, köstlichen Zieraten bedeckt. Schwere goldene Ringe umgaben seine Handgelenke; Ketten von aufgereiheten römischen Kaisermünzen, mit dem Schwert erbeutet auf kühnen Seeräuberzügen, die gallische und hispanische Küste entlang bis tief in das Land hinein, wo damals Syagrius seinen Todeskampf kämpfte – umschlangen seinen Hals.
Den thüringischen Männern gefiel dieser Schmuck, der Glanz des Goldes stach ihnen in die Augen. Gierig fragten sie nach dem Preise aller dieser Herrlichkeiten.
»Gebt mir dafür, was Ihr wollt!« sagte der Fremdling, und lachend boten ihm die Besitzer des Landes einen Schoß voll Erde von ihrem Grund und Boden, und lachten noch mehr, als der fremde Krieger bedächtig seine Einwilligung nickte und allen Schmuck, alle Ketten und Ringe abstreifte. Die klugen Thüringer füllten ihm das Gewand voll Erde, wie sie versprochen. Kaum aber war das geschehen, so sprangen von dem Schiffe waffenklirrend und jubelnd die unbekannten Leute ans Land – eine Kolonie riesiger, vom Meerwind gehärteter Männer und hoher, stolzer Weiber! Der listige Käufer aber bestreute mit der gekauften Erde eine weite Strecke fruchtbaren Bodens, und auf ihm faßte das Volk der Sachsen zuerst festen Fuß in der alten Cheruska! Schiff auf Schiff kam nun den Strom herauf, Ansiedlung nach Ansiedlung entstand; nach langen blutigen Kämpfen wichen die Thüringer zurück, und drängten die Katten abermals weiter ab gegen Süden, wo sie heute noch sitzen!
Wo aber Werimar und Mangingelt, die Führer des ersten Sachsenschiffes, ihre Schwerter zuerst in den Boden gestoßen hatten, da steht heute das Rathaus der Stadt Finkenrode, und heute noch sitzen ein Bremer und ein Manegold im Rat der Stadt; der erste ein wackerer Schneider, der andere aber ein sechs Fuß hoher Schmied, der seinen Hammer heute noch vielleicht ebenso gewaltig schwingt, wie sein Vorfahr vor tausend Jahren das Saß, das sassische Schwert.
In unendlichen Krümmungen zieht sich der schiffbare Fluß zwischen den Bergen hin, die sich bald dicht zusammenschieben, als wollten sie ihm den Durchgang verwehren, bald wieder in weiten Flächen und Geländen sich auseinanderlegen. Aus ihrem Wolkenschleier sahen alle die Berggipfel, Höhen, Täler, Wälder mich an, als wollten sie sagen: »Was willst du von uns? Du hast uns so lange verleugnet – du gehörst nicht mehr zu uns – wir kennen dich nicht mehr!« … Aber ich kenne euch! rief es in mir. Das da ist der Springberg, und dort ragt der Junkerstein – dort ist die Pfaffenschlucht und da das Frauenholz, aus welchem der Hurlebach noch ebenso lustig hervorsprudelt, wie in alter Zeit! O ich kenne euch alle und ihr sollt nicht das Recht haben, mich von euch zu stoßen! Da, wo der leichte Rauch aufwirbelt, ist die Paddenmühle – horch, horch, das Geläut von Sankt Marienstuhl klingt noch, wenn auch die Nonnen selbst lang vertrieben sind aus dem Mariengarten! Es ist Sonnabend, deshalb klingt die Glocke in dem wundervollen Turm dort über dem Wald, und horch, horch – da, die Glocken der Heimat, die Glocken von Finkenrode! … Hals über Kopf rannte ich den Schillingsberg hinunter, mit der einen Hand den Regenschirm, mit der andern den Hut haltend. Was kümmerte mich der stärker werdende Regen, unter mir hatte ich ja die beiden Turmspitzen der Martinskirche meiner Vaterstadt, die freundlich aus dem Nebel und Dunst heraufschauten und winkten! Platsch, platsch, platsch! über Stock und Stein, glitschend, rutschend, springend und stolpernd, daß mir das Wasser und anderes mehr um die Ohren flog, immer hinab ins Tal, jetzt über den Hurlebach, an der klappernden Paddenmühle vorbei, durch die Wiesen, die Gärten entlang, bis an das Burgtor der alten Stadt Finkenrode! Ah!..
Ein Trupp Gänse zischte und schnatterte mir unter der Wölbung entgegen, ein Kopf, bedeckt mit einer weißen Zipfelmütze, fuhr aus dem Fenster des Steuereinnehmerhauses am Tor, verwundert die so unerwartet herantrabende Erscheinung anstarrend; – langhallendes Kindergeschrei die Straße entlang; Kinder an den Fenstern, Kinder in den Türen, unter den Torwegen, Kinder im Regen, Kinder im Trockenen – wahrlich, ich hatte meine Vaterstadt Finkenrode erreicht; nicht mit den Gefühlen eines Olympiasiegers, nicht mit den Gefühlen eines Heimwehkranken; aber doch mit recht anständigen, stichhaltigen, naturgemäßen Gefühlen, welche von einem nicht allzuverhärteten und gleichgültig gewordenen Gemüt zeugten. Nach ewigen Augenblicken des Verschnaufens schritt ich gemächlicher die Hauptstraße hinab, rechts und links die Häuser entlang blickend. Alle diese alten vorgeschobenen Giebel, diese Winkel und Ecken, diese hohen Treppenstufen, diese überdachten Haustüren, diese dunkeln Torwege hatten etwas so Bekanntes, freundlich Wirkendes, Heimliches für mich, daß es wahrhaftig kein Verdienst war, gerührt zu werden, und die Wasserströme nicht zu achten, welche die Dachrinnen auf mich heruntergossen. Jetzt schritt ich über den Marktplatz an dem sprudelnden Brunnen mit dem Bilde des heiligen Martins, des Schutzpatrons der Stadt, vorbei; – – mein Auge fiel auf ein ziemlich großes, freundliches Haus mit spiegelblanken Fensterscheiben und zwei jetzt kahlen Akazienbäumen vor der Tür.
»O, der alte Oheim Fasterling!« rief ich, und eine ganze Welt von Erinnerungen stürmte auf mich ein. Der Oheim Fasterling war eigentlich nicht mein Verwandter, sondern ein alter pensionierter Hauptmann, welcher die Befreiungskriege mitgemacht hatte und seit langen Jahren in Finkenrode allen heranwachsenden Buben das preußische Exerzierreglement beibrachte. Ich war einst sein Liebling gewesen, er hatte mich auf seinem alten Eisenschimmel das Reiten gelehrt, ich begleitete ihn auf seinen Spaziergängen – der Oheim Fasterling! der Oheim Fasterling! …
Jetzt, um die Ecke biegend, stand ich vor der prächtigen alten Kirche des heiligen Martin, deren Türme man in allen Gassen von Finkenrode über die Dächer ragen sieht. In ihrem Schatten lag noch immer das im Sommer so idyllisch umgrünte Schulhaus, der Schauplatz meiner ersten Jugendtaten; ich machte, daß ich den – Gasthof zum goldenen Weinfaß erreichte.
4
Von dem Eckzimmer des Gasthofs zum goldenen Weinfaß begann ich, nach einigen Stunden der geistigen und körperlichen Sammlung, mein Finkenrodener Leben durch Beobachtung der Bullergasse und des sie durchwandelnden Volkes. Ich suchte mir einzubilden, bekannte Gestalten und Gesichter vorübergleiten zu sehen; kannte in Wahrheit aber nur den in gemütlicher Apathie seine Pfeife schmauchenden Mohr, welcher vor dem gegenüberliegenden Tabaksladen Wache hielt. Wir pflegten zum großen Ärger des Besitzers des Gewölbes aus Blaseröhren nach dem schwarzen Kerl zu schießen, und hinter der Straßentür stand ein tüchtiger Rohrstock, mit welchem bewaffnet der alte Steinbrecht von Zeit zu Zeit hervorzustürmen pflegte, was jedesmal ein tobendes Auseinanderstieben unsererseits zur Folge hatte.
Noch immer schienen die holden Finkenrodenerinnen die Blumenzucht zu lieben! Jedes Fenster hatte seinen grünenden blühenden Schmuck hinter den spiegelhellen Scheiben, den weißen, roten und gelben Vorhängen. Sie verwahrten aber auch immer noch ihre Kellerlöcher durch vorgestopften Dünger gegen den Winterfrost, die braven Hausherren und Hausfrauen von Finkenrode! Ich fühlte mich so behaglich, so gemütlich in meinem Eckfenster, daß ich selbst gegen einen Weinreisenden,