mit allen Legitimationen versehen, an hiesiger Gerichtsstelle zu erscheinen. Das Vermögen an Mobilien und Immobilien ist ziemlich bedeutend.«
»Der ich mich Ihnen hochachtungsvoll und ganz ergebenst empfehle
Friedrich Rettig, Notar. Finkenrode, am 20. November 18–«
Weitenweber grinste zwei Minuten stillschweigend nach mir herüber; dann sagte er:
»Du scheinst den Verlust deines Oheims mit Gleichmut zu ertragen. Das Vermögen an Mobilien und Immobilien ist ziemlich bedeutend – gratuliere.«
»Was das erstere anbetrifft, so ließe sich ein Langes und Breites darüber sagen. Ich kann mich kaum noch des alten Herrn erinnern; er hat durchaus nicht in mein Leben eingegriffen –« bah, Familiengeschichten!«
»Und was gedenkst du nun zu tun?«
»Ich muß reisen.«
Die Feder Weinwebers nahm ihr Gekritzel wieder auf, ich aber schlug die Arme übereinander und verlor mich in ein Gewirr alter Erinnerungen, Traditionen, das mich weit genug weg führte aus dem dunkeln Redaktionszimmer des Kamäleons, in welches eben der Druckerjunge nach Manuskript glotzte. Ich konnte den toten alten Herrn, welchen sie dort in der Ferne in das Grab gelegt hatten, nicht aus den Gedanken loswerden, wenn ich mir gleich durchaus keine Vorstellung von seinem Sein und Wesen, seiner Persönlichkeit machen konnte.
Meine Mutter sprach selten von dem Bruder meines Vaters. Ein Brief, den sie kurz vor ihrem Tode an ihn absandte, kam unerbrochen zurück. Sie warf ihn mit ihrer müden, magern, zitternden Hand selbst ins Feuer, ehe sie ihr treues, liebes Auge für immer schloß – es ist schon lange her – und eine Träne fiel mit in die Glut, welche die verworrenen, zitterhaften Buchstaben verzehrte.
Nie erfuhr ich, was für ein verklungen Gefühl durch diesen Brief wieder aufgeweckt werden sollte!
Die Flut der Leute, die in einer Zeitungsredaktion zu schaffen haben, kam und ging wie gewöhnlich: ich antwortete auf Fragen, lachte, wenn der Redende, darauf zu bestehen schien, war grob, zart, Protektor, Supplikant, höflich, unhöflich, anmutig und langweilig, wie die Umstände und die Persönlichkeiten, welche ich vor mir hatte, es forderten; erwachte aber erst aus meiner Betäubung, als Weitenweber seinen Hut aufstülpte, seinen Grauweißen stöhnend anzog, eine neue Zigarre an der Gasflamme über seinem Schreibpult anzündete und, die Hände in den Taschen, sich vor mich hinstellte.
»Ich bilde mir ein, daß ich dich morgen hier nicht sehen werde – he, wir geben den Schwindel wohl ganz auf – was? Satte Leute können wir hier nicht gebrauchen. – Guten Abend.«
Ich war allein. Aus der Druckerei erschallte das mir so wohlbekannte Geräusch der arbeitenden Pressen. Jetzt hatte ich Zeit, meinen Träumereien nachzuhängen, aber die Lust dazu war vorüber.
»Ja, ich werde morgen reisen!« rief ich aufspringend. »Armer Teufel von Oheim, was werde ich in deiner dunkeln, menschenfeindlichen Höhle finden – in dem unbekannten Hause, in der unbekannten Vaterstadt? Also ein reicher Mann bin ich? … aha … doch ein äußerst wohltuendes Gefühl! Wenn ich Weitenweber mitnähme? – Alle Wetter, das würde ein Jubel werden, wenn der Vortreffliche seine Tätigkeit einmal einstellte! Hurra, Weitenweber muß mit! – Schraube die Lampe aus und mach, daß du nach Hause kommst, Floh! Da hast du einen Taler, wende ihn gut an!«
Der Junge fuhr aus dem sanften Schlummer, in welchen er auf seiner Bank versunken war, auf, ich wiederholte ihm meinen Befehl – die Redaktion des Kamäleons versank in tiefe dunkle Nacht. Ein feiner kalter Regen empfing mich draußen; ich warf mich daher in die nächste Droschke, um so schnell als möglich nach Hause zu gelangen. Der größte Teil der Nacht ging mit den Vorbereitungen zur Reise hin, und erst um Mitternacht suchte ich Weitenweber im Künstlerverein auf, um ihm meinen Plan vorzulegen. Die Mehrzahl der Klubmitglieder hatte sich bereits nach Hause begeben, und nur ein halbes Dutzend der Unverwüstlichen hockte noch in einem Winkel zusammen und redete Calderon; Weitenweber ausgenommen, der dazu schweigend die gräßlichsten Gesichter schnitt. Als ich eintrat, kam neues Leben in die Gesellschaft.
»Holla, da ist der Glückliche!« rief eine Stimme.
»Ein Lebehoch, dem aus jenen seligen Sphären verklärt auf seinen höchst seligen Erben herabschauenden Onkel!« deklamierte pathetisch der Schauspieler Waller.
»Setze dich, mein Sohn,« sagte Weitenweber und überließ mir großmütig einen der vier Stühle, die er gewöhnlich gebraucht, um sich eine bequeme Lage im gesellschaftlichen Leben zu verschaffen. »Kannst du nicht schlafen, armes Kindlein? Nervös aufgeregt, he?«
»Laß mich ein Wort mit dir sprechen, Weitenweber.«
»Sprich – du erlösest mich wenigstens von Calderon und dem standhaften Prinzen.«
»Geh mit mir nach Finkenrode, Weitenweber!«
Weitenweber hielt sein Weinglas gegen das Licht und machte eine Miene, als habe er eine darin schwimmende Kellerassel entdeckt.
»Danke, mein Sohn. Da müßte ich doch ein gewaltiger Esel sein; sie werden dir die Hölle schon heiß genug machen … Übrigens fürchte ich mich auch allzusehr vor einer Stadt von sechstausend Einwohnern.«
»Bah!«
»Ich sorge um dich, Bösenberg !Du wirst genug dumme Streiche in dem Neste machen, wenn du mich nicht zur Seite hast. Ich habe noch nie bei einem Menschen ein so kolossales Talent dazu gefunden, als bei Dir. Höre – was ich dir versprechen will. Ich will kommen, wenn dir der Dreck bis an den Hals gestiegen ist. Du kannst mir von Zelt zu Zeit schreiben – aber kurz, wenn ich bitten darf. Gott befohlen, mach, daß du nach Hause kommst; du hast eine Neigung zum Ehestand, zum Hausvatertum, trotz deiner bodenlosen Liederlichkeit, trotz der kleinen Aurelie in der Kreuzgasse – geh ab und nimm eine Wiege mit!«
Die andern lachten; ich dachte das Meinige, hielt es aber doch für das beste, dem ersten Teil der unverschämten Mahnungen des Kamäleonredakteurs nachzukommen. Ich schlief wirklich diese Nacht nicht viel.
2
Der Mond glitt rund und voll, aber verschleiert, wie eine schöne Frau auf der Umkehr – durch den geheimnisvollen Duft der Novembernacht und verbarg sich nur selten und, wie es schien, sehr ungern, hinter irgendeiner der schwarzen Wolken, die fernern Regen drohend, hier und da am Himmelsgewölbe herumlungerten. Seit zwölf Uhr mittags befand ich mich auf der Reise nach Finkenrode. Die Gegend, durch welche der Eisenbahnzug flog, war flach, berg-und hügellos, am Tage vielleicht eintönig, reizlos, langweilig; die Nacht, der Mondenschein, der aus den Niederungen aufsteigende Nebel aber verliehen ihr einen Zauber, welchen die malerischste Landschaft zu dieser Zelt vielleicht nicht geboten hätte. Die schwarzen Föhrenwälder, bald näher heranziehend, bald in der Ferne zurücktretend, die weit in die Ebene hineinfunkelnden Wasserflächen der großen Havelseen, die Lichter in den vorbeifliegenden einsamen Häusern, Dörfern und größeren Ortschaften glitten vorüber, wie in einer Zauberlaterne, und alles paßte gänzlich zu der Stimmung, in welche ich seit Dunkelwerden hineingeraten war. Ich hatte mich in die Kissen meiner Wagenecke zurückgelehnt und blickte halb, geschlossenen Auges in die Nacht hinaus. Meine Mitreisenden taten und sagten nichts, mich in meinen Gedankenspielen zu stören. Die Jungfrau mir gegenüber hatte den grünen Schleier über ihr schönes Gesicht fallen lassen und das Haupt gesenkt, wie eine schlafende Blume – um ein fadenscheiniges Gleichnis wieder hervorzusuchen; der alte dicke Herr, welcher sich auf den Weg gemacht hatte, um einen Taugenichts von Sohn in einer fernen Provinzialstadt seine väterliche Autorität fühlen zu lassen, schlief wirklich, stieß drohende Töne aus und machte bedenkliche Handbewegungen, welche dem schuldenmachenden Sprößling wahrlich nichts Gutes bedeuteten. Das Kind neben mir, welches sein Köpfchen an die Brust der Mutter gelehnt hatte und von dieser sorgsam gehalten wurde, damit es nicht von der Bank gleite, schlief ebenfalls. Die Laterne an der Decks des Wagens warf ihr rötlich trübes Licht über den kleinen Raum, – die Maschine stöhnte, der Zug klapperte und ächzte, rasselte