ich selbst den Meister Martin aufsuchte?« fragte ich.
»Ja, ja! Das tun Sie, Herr Vetter! bitte, bitte!« rief Sidonie. Cäcilie lächelte ihre Zustimmung, ich nahm den Hut und ging. –
Das Gefängnis der Stadt Finkenrode befindet sich in dem schon einmal von mir erwähnten Burgtor. Vagabunden, unglückselige, beim Betteln ertappte Handwerksburschen, heimatlose Weiber mit ihren Kindern, Forstfrevler und Gartendiebe müssen oft genug in seinen dunkeln, feuchten, kalten Räumen unbehagliche Stunden und Tage hinbringen. Der Kerker selbst befindet sich rechts von dem Torwege, und durch ein kleines Guckfenster mit eisernem Gitter fällt ein schwaches Licht hinein. Drei ausgetretene Stufen führen zu der niedern im Spitzbogenstil gebauten Tür dieses Gefängnisses, in welcher ein kleines Loch, das durch eine Klappe verschlossen werden kann, sich befindet und dem Gefangenen gestattet, ein wenig frische Luft in seinen dumpfigen Aufenthaltsort zu lassen. Es haften viele meiner frühesten Erinnerungen an diesem alten Gebäude; manches unheimliche Gefühl erregte es mir in meiner Kindheit; und mit geheimem Schauder und Gedanken an Henkersknechte, Marterinstrumente und allerlei böse Gespenster begleitete ich mit den Genossen den dicken Polizeimann der Stadt, Herrn Grippelmann, wenn er ein unglückliches Opfer in diese finstere Höhle schleppte.
Mancherlei Schauergeschichten erzählte man von dem Burgtor und seinem Kerker: ein Handwerksbursche sollte darin von den Ratten gefressen worden sein, und beim Abbruch eines Pfeilers fand man natürlich zwischen dem Schutt in einer Höhlung ein Gerippe im Harnisch. Ein alter Vers ging von dem Burgtor in der Stadt Finkenrode; die Wärterinnen sangen ihn den Kindern vor, und die Handwerker regelten nach seinem Takt den Schlag ihrer Hämmer und Äxte.
Im Sommer ziehen die Töchter des Gefangenwärters in den Scherben vor den schießschartenartigen Fenstern der Dienstwohnung desselben im Turm mancherlei Gewächse: Goldlack, Kresse und Schnittlauch, und geben dem finstern Gebäu dadurch ein etwas freundlicheres Ansehen; heute deutete mir nur ein leichter Rauch, der aus dem Schornstein aufwirbelte in die Nebelluft, an, daß der menschenfeindliche Ort doch seine Bewohner habe.
Ein Kinderhaufen bildete im zertretenen Schnee einen dichten Kreis um die Gefängnistür, als ich mich ihr näherte. Ein kleines Männlein stand auf den Stufen und steckte den Kopf in die eben von mir beschriebene Klappe. Ich erkannte den Musikanten Wallinger in ihm, schritt durch die Kinderschar hindurch und legte ihm leise die Hand auf die Schulter. Schnell drehte sich der arme Künstler um; er machte mir eine tiefe Verbeugung, die Schar der kleinen Buben und Mädchen jubelte ironisch, und ein Schneeball flog gegen die Tür. Vor einer Handbewegung meinerseits zerstob jedoch der Schwarm der Finkenrodener Jugend; zwei funkelnde, schwarze Augen in einem gelblichen hagern Gesicht leuchteten mir aus dem Dunkel des Gefängnisses entgegen.
»Lassen Sie ihn am Leben – es ist so hart, den Kopf zu verlieren!« sagte der kleine Wallinger mit gefalteten Händen. »Vielleicht weiß er auch etwas von der Prinzessin!«
Eine zum Nehmen gekrümmte Hand kroch langsam aus der Klappe hervor.
»Seid Ihr der Zigeuner Martin Nadra?«
»Zu Diensten, gnädiger Herr! Den ganzen Tag Martin Nadra – zu Diensten der ganzen Welt! Haben Sie nicht etwas kleines Geld bei sich, allergnädigster Herr?«
»Deshalb komme ich nicht. Fräulein Sidonie Fasterling, welcher ihr soviel Mühe und Not macht, Martin, will wissen, weshalb ihr hier wieder im Loch steckt?«
Martin, der Zigeuner, stieß einen gewaltigen Seufzer aus und kratzte sich hinter den Ohren, wurde aber in demselben Augenblick zurückgezogen, und ein anderes Gesicht erschien in der Türklappe.
»Das ist die Frau Lena!« sagte mit dem Lächeln der Irren der alte Musikant.
»Das schönste Fräulein schickt den gnädigen Herrn?« rief das Zigeunerweib mit kreischender Stimme. »Tausend Segen Gottes über sie – wir haben nichts Unrechtes getan – wir haben Böses mit Bösem vergolten – da haben sie uns in den Turm geworfen« –
»Habt ihr noch jemanden von eurer Familie bei euch, Leute? Wo stecken die Mädel und die Buben?«
Das braune Weib machte eine ungemein bezeichnende Handbewegung über den Mund weg und grinste dabei sehr bedeutsam.
»Ich bin ein Freund! In frühern Zeiten haben wir uns recht gut gekannt – Max Bösenberg! Erinnert Ihr Euch?«
»Ah!« rief das Weib. »Die heilige Jungfrau sei gesegnet – das ist der kleine Max aus dem großen Haus, der einmal mit uns fortlief auf den Jahrmarkt« –
»Richtig! Richtig! Ein andermal mehr davon! Jetzt sprecht, wo sind die Kinder?«
»Wir stecken allein darin, allerschönster junger Herr,« rief Martin aus dem Hintergrunde. »Die Großmutter sitzt zu Haus bei den Kleinsten, der Anton ist bei dem gnädigen Herrn Mietze, und die andern« –
»Nun, die andern?«
»Wir wissen es nicht, schönster Herr Max! Sie sind noch nicht nach Haus gekommen, sagt Herr Wallinger! Dieser Herr da!«
Der alte Wallinger stand und hielt den linken Arm vor sich, als läge eine Violine darin; mit dem rechten Arm und der rechten Hand machte er die Bewegung des Geigens: vollständig hatte er das ihn Umgebende vergessen. Die Kinder sammelten sich bereits wieder in einiger Entfernung, und auch die erwachsenen Finkenrodener wurden aufmerksam. Ich suchte meine Unterredung mit den Landstreichern zu Ende zu bringen.
»Es ist wieder über den Rollo hergekommen!« sagte der Zigeuner, streckte seine linke, braune Pfote aus und schlug klatschend mit der rechten drein. »Das war vor einem Jahr in Volkmannsdorf – er sollte dem Schulzen ein Huhn gestohlen haben; aber ich glaube es nicht! – als er zurückkam, war sein schöner Schwanz ab. Das arme Vieh! Es sah gar nicht mehr aus wie ein Mensch, und kein Bauer wollte nachher mehr glauben, daß der kluge Hund mit allen großen Potentaten Karte gespielt habe. Na, dem Schulzen haben wir’s gezeigt! Die Buben und Mädeln mußten ihm in der Nacht die Fenster einwerfen« –
»Und ich ließ ihm des Nachbars Schweine in den Garten!« rief die Frau Lena. »Da kamen wir zum erstenmal von wegen des Rollo in den Turm, – und – – und jetzt ist der tot, und – und die Frau Oberpastorin ist schuld daran, und der Knecht auf dem Pfarrhofe. Wir haben geheult um den Hund, als wär’s unser eigen Kind, und der Pfarrknecht hat sich aus seinem armen Fell eine Mütze gemacht! – Es ist ihm aber schlecht bekommen, und der gnädigen Frau Pastorin hab’ ich’s auch vergolten, und nun sitzen wir hier wieder, weil wir uns unser Recht genommen haben – wir hätten’s sonst ja nicht gekriegt!«
»So ist die Geschichte!« sagte ich. »Und die Kinder« –
»Verraten Sie nicht, daß die Kinder dabei gewesen sind, allergnädigster Herr«, flüsterte das gelbe Weib ängstlich. »Es ist so ungesund, so kalt in dem Loch – bitte, bitte, lassen Sie sie zu Hause – wir Alten sind es auch nur allein gewesen!«
»Ich werde Fräulein Sidonie und Fräulein Willbrand die Lage der Dinge verkünden, ihr tollen Menschenkinder. Gehabt euch wohl so lange; vielleicht können wir etwas für euch tun.«
»Segen Gottes und aller Heiligen auf den Herrn!« schrie Martin. »Wir gehen für die Herrschaft durch Wasser und Feuer und wollen alle zerbrochenen Töpfe in des Herrn Hause für umsonst kitten und binden! Der hübsche Hund Waddel ist auch ein Söhnlein des armen Rollo – da ist die weiße Spitzhündin auf dem Pfarrhofe« –
Ich winkte lachend mit der Hand. » Hinc illae lacrimae!« sagte ich, als ich die Stufen der Gefängnistreppe herabsprang. »Wollen Sie mich nicht begleiten, Herr Wallinger?«
Der Angeredete schüttelte ängstlich den Kopf. Ich wiederholte meine Frage; aber er antwortete nicht. Ich ließ ihn an der Tür des Gefängnisses von Finkenrode. –
Wer sagt, daß Finkenrode, das vergessene Städtlein, nicht seine Geheimnisse habe?
Der Wald hat seine klugen Zwerge und Alraunen, das Wasser hat seine Nixen und Undinen, von Salamandern und Feuergeistern lebt die Flamme: auch die Menschenwelt hat ähnliche Erscheinungen, und ich liebe diese Erscheinungen und denke ihrem unberechenbaren Wesen und Treiben nach. – Es