Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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      Wenn die bauende Schwalbe den ersten schmalen Rand ihres Nestes an die Mauer des Hauses geklebt hat, so bringt sie lieber die erste Nacht auf die unbequemste Art, halb in der Luft schwebend, darauf zu, als daß sie es verläßt und sich der Gefahr aussetzt, am andern Morgen andere geflügelte Wohnungsbedürftige mit dem Weiterbau desselben unbefugterweise beschäftigt zu finden. Ich verhielt mich auf eine ganz ähnliche Weise, indem ich mich krampfhaft in einem Ideenkreise festklammerte, unendlich beschränkt und unendlich weit zu gleicher Zeit. Erst die Glocken, welche das Weihnachtsfest einläuteten, riefen mich wieder in das gewöhnliche Leben zurück. Ich hatte nicht nötig, mein Herz festtäglich aufzuputzen; aber ich ließ mein Haus scheuern, Und zum erstenmal in meinem Leben sah ich die daraus entstehende Wüstenei mit andern Augen an, als es sonst bei mir der Fall ist. Inmitten der bedrohlichsten Wasserströme stand ich und fühlte meiner Anlage zum Hausvatertum den Puls. Gundermann fand mich so und lachte bedeutend. Ich bedauerte nur die Abwesenheit Weitenwebers. Gegen Abend verließ ich im Gesellschaftsanzug meine Wohnung, um mich nach dem Hause des Hauptmanns Fasterling zu verfügen, wo die heilige Nacht gefeiert werden sollte; eine Festlichkeit, zu welcher Alexander der Mime natürlich keine Einladung erhalten hatte.

      Wir begegneten einander in der Gasse, drückten uns die Hände und seufzten beide:

      »Mietze!« »Bösenberg!«

      »Ach, Alexander« –

      »Ach, Max – du wirst sie sehen – sag ihr – nein, sag ihr nicht – Höll’ und Teufel!«

      »Fluche nicht, Alexander! Sieh, dort flammt ein Christbaum auf. Wie still die Straßen sind! – O Alexander, Freund, Genosse, hast du wohl die Weihnachtsglocken gehört?«

      Der Schauspieler nickte, seufzte wieder und wühlte in den Locken.

      »Sieh, wie die weißen Berge überall in die Straßen und den heiligen Abend hineinlugen: was meinst du – wenn du jetzt auf den Schillingsberg galoppiertest und – ihren Namen in alle vier Himmelsgegenden hinausriefest?«

      »Geh deinen Weg, gefühlloser Mensch« –

      »Das werde ich auch; aber was soll ich ihr sagen von dir?«

      »O! Ah! Sag ihr« –

      Wir waren vor dem Hause der Holden angelangt, und der Schauspieler brach ab, wie ein Verzückter nach den hellerleuchteten Fenstern derselben hinaufstarrend. Ich zuckte die Achseln, wünschte ihm eine – angenehme Weihnachtsfeier und ließ ihn stehen, gleich einem Warnungspfahl gegen das Verlieben. Kopfschüttelnd trat ich ein in Sidoniens tolles Weihnachtszauberreich.

      Wie bedauerte ich den armen Teufel unten im Nordwind, als sie mir glänzend, sonnig – eine Prinzessin Tausendschön entgegenhüpfte.

      O Lichterglanz! O Tannenduft! O Lumpengesindel von Finkenrode!

      Das war wie das Gleichnis vom großen Abendmahl:

      »Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune, und nötige sie, hereinzukommen, auf daß mein Haus voll werde! – Gehe aus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, und Krüppel, und Lahmen und Blinden herein!« Der Hauptmann hatte seine beste Uniform und sein eisernes Kreuz angelegt und um sich versammelt an armen, alten Kriegern aus den Freiheitsschlachten, was in Finkenrode noch lebte. Der Forstmeister von Altenbach war erschienen an der Spitze einer vollständigen Armee von Weinflaschen, welche, in Kompagnien abgeteilt, in Körben herbeigeschleppt wurde. Seine Stimme machte die Fenster erzittern, und unter seinen Fußtritten schütterte das Haus; es war ein Wunder, daß er nicht bei jedem Schritt eines der unzähligen Kinder, welche überall wimmelten, zertrat.

      Da war der halbblinde Schneider Basilius, der mit York von der Weichsel nach Paris sich durchgefochten; da war Möffert, der Wackere, der bei Talavera geschlagen hatte. Da war Böcker, welcher von Körner und den Lützowern zu erzählen wußte, da waren vier alte Grauköpfe mit der Waterloomedaille und zwei andere, welche bei Leipzig dienstunfähig geworden waren, und alle waren da mit Kindern und Kindeskindern. Anfangs scheu und verlegen, wurden sie allmählich vertrauter, redseliger: an dem Hauptmann und dem Forstmeister lag wahrhaftig nicht die Schuld, daß sie nach Mitternacht nicht nach Haus gefahren zu werden brauchten! Es waren aber auch noch andere Leute zugegen. Sidonie Fasterling hatte ihren Flügel in den großen Saal des Hauses bringen lassen, und Wallinger saß vor ihm und spielte Tanzweisen und nippte Rheinwein. Gekämmt, gewaschen und in neue Kleider gesteckt, war mit ihm die Familie Radra erschienen: die Mutter Janna an Cäciliens Seite. O Lichterglanz! O Tannenduft! O Cäcilie, Cäcilie Willbrand!

      Der Forstmeister von Altenbach küßte der Frau Agnes ritterlich die Hand und dem »Herzensmädel« den Mund, und ich – ich – ließ mir von der Zigeunermutter von dem heiligen römischen Reich erzählen.

      Wie das durcheinander schwirrte und wirrte; Schlachtengeschichten und Kindergeschichten – niemand hinderte den Hauptmann, Dutzende von Abenteuern, welche alle anfingen: Als wir in Frankreich waren – vorzutragen. Der große Tannenbaum in der Mitte des Saales funkelte und blitzte; Wallingers Weisen klangen wehmütig-lustig durch das Getöse. Lange dauerte es, ehe ich einen passenden Augenblick finden konnte, um das Bäschen Sidonie hinter einen Fenstervorhang zu führen, um sie auf den unglückseligen Schatten drunten im Schnee und Nordwind aufmerksam zu machen.

      Das Auge der Kleinen folgte meinem deutenden Finger – eine reizende Schulter, und Handbewegung –

      »Der Tor!« …

      Das Füßchen stampfte den Boden –

      »Der Papa – einen Augenblick, Herr Vetter!«

      Sie sprang zurück in den Saal, hüpfte mit dem gleichgültigsten Gesichtchen von der Welt durch das lustige Getümmel zu der Weihnachtstanne. Ich sah, daß sie den Forstmeister anredete, daß dieser sich auf den Zehen erhob und ihr einen Gegenstand aus den höchsten, grünen Zweigen des Baumes herablangte. Sie dankte mit einem Knicks, warf einige lächelnde Worte einem der Veteranen zu – dann war sie wieder an meiner Seite, eine Hand mit dem Taschentuch vor dem Munde, die andere in der Tasche ihres Kleides.

      Der Schatten war auf seinem Posten, im Schneeleuchten, noch immer schwach zu erblicken.

      »Nun, Cousine, was haben Sie vor? Wieder eine Quälerei des Armen? – Sidonie, er liebt Sie wirklich!«

      »Ach, Herr Vetter aus der Residenz!«

      »Bitte, bitte, Sidonie, seien Sie nicht so grausam! Er ist wie ein Maikäfer, dem ein Kind einen Faden am Bein befestigt hat und der sich daran zu Tode flattern muß« –

      »Der Arme!… Aber bedenken Sie doch, Hen Vetter, der Papa will ja nichts von ihm wissen! Was soll ich tun? Ich habe ihm den Faden wahrhaftig nicht ans Bein gebunden!« Jetzt war an mir die Reihe, die Achseln zu zucken.

      »Sollte er uns wohl bemerken?« fragte Sidonie. »Gott, wenn der Papa« –

      »Der Papa befindet sich mit dem alten Basilius auf dem Marsch nach Paris; er sieht und hört nicht.«

      »Klopfen Sie einmal ans Fenster!« flüsterte sie. »O Gott! …«

      Wir sahen uns beide scheu um; Waddel streckte seinen Kopf unter dem Vorhang durch und blickte zu uns empor, augenscheinlich mit der Absicht, ein lautes Gebell von sich zu geben.

      »Waddel! Waddel!« flüsterte Sidonie. »Will er! Still! still, Waddelchen!«

      Ich hatte an die Scheibe geklopft; aber der Schauspieler hatte vor dem Wind nichts gehört, jetzt öffnete ich behutsam das Fenster und rief ihm mit verhaltener Stimme:

      »Alexander! Alexander!«

      Mit einem Satze war der Bocksspieler unter den Fenstern des Hauptmanns Fasterling.

      O Weiber! Weiber!

      »Rechte oder linke Hand, Herr Vetter?« fragte Sidonie, aus ihren Taschen schnell zwei Gegenstände ziehend und sie ebenso blitzschnell hinter dem Rücken verbergend.

      »Wa – wa – was?«

      »Rechte oder linke Hand?«

      »Ah