wieder lebendig machen?«
»Arme Frieda!« schnarrte der Rabe und hackte mit dem Schnabel in den Fußboden.
Ich blickte nach dem Bilde meiner Tante und meiner Cousine.
»Arme kleine Frieda! Ach Jakob, Jakob! – Armer Oheim Albrecht! Laß das Hacken und Kratzen, Jakob, du wühlst die Toten nicht wieder ans Licht.«
Ich warf einen frischen Holzvorrat in den Ofen und schritt auf und nieder in dem Studierzimmer meines Oheims. Wie hätte ich in dieser Nacht schlafen können, in dieser Nacht, in welcher sogar die glücklichen Kinder unruhig sich hin und her wälzen in ihren Bettchen l
Was zog und zerrte alles an mir! Sollte ich das Schicksal, das mich nach Finkenrode geführt hatte, segnen oder schelten? Ach, ich brachte doch aus meinem früheren Leben gar wenig mit, was mir jetzt als Gegengewicht gegen meine jetzige Seelenstimmung hätte dienen können.
Was konnte ich ihr bieten für ihre reine, fleckenlose Seele? Ich – bedeckt mit dem Staub und Schweiß des Kampfes, mit aller Welt Jämmerlichkeit und Erbärmlichkeit!
Was hatte ich getan im Leben, um ihrer würdig zu sein? War es nicht alles Tand und Torheit, was ich geschafft hatte? War nicht alles hohle Lüge, alles Phrase? Wo hatte ich je männlich der Wahrheit ins Auge geschaut? Ich, geleitet von der Meinung des Tages; ich, scheu vor jeder höchsten Konsequenz seitwärts schleichend! O Weitenweber, Weitenweber, das letztere war nicht deine Schuld!
Und sie! … sie – die schöne Stille, wie sie der Zigeuner nennt –
Die schöne Stille!
Ich drückte die Faust auf die Stirn. Siel Sie! Was will ich von ihr? was hat sie mit mir zu schaffen?
Ein Gepolter hinter mir erweckte mich aus meinem wachen Traum – die Nacht war weit vorgerückt; ich fuhr tüchtig zusammen und wandte mich blitzschnell aufspringend um. Eine Wolke von Staub erfüllte eine Ecke des Gemaches; Staub und Moder schüttelte der Rabe krächzend von den Flügeln, eine ganze Abteilung der Repositorien war, von den Würmern zernagt, zusammengebrochen unter der Last der auf ihr ruhenden Folianten und bedeckte in einem wüsten Haufen den Boden. Jakob der Rabe war durch sein Kratzen und Hacken wahrscheinlich die erste Veranlassung zu diesem Ruin gewesen: ich bemerkte, als ich die Lampe ergriff und die Verwüstung beleuchtete, daß er mit dem einen Bein hinke, welches ihm durchaus nichts an Liebenswürdigkeit zulegte.
»Aber Jakob, was hast du angefangen?« fragte ich das Tier, welches jetzt zusammengekauert auf der Spitze des Bücherhaufens saß und dumpf murrte. Eine Entdeckung, die ich aber jetzt machte, zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Hinter den gefüllten Bücherbrettern war eine Tür verborgen, welche nur einem Wandschrank angehören konnte.
Ich betrachtete sie von oben bis unten; ein verrosteter Schlüssel steckte noch in dem Schloß. Ich drehte ihn mit Mühe, kreischend gab er endlich nach, und die Tür öffnete sich. Ein feuchtkalter Modergeruch schlug mir entgegen, und ich trat einige Augenblicke zurück, um den Dunst ein wenig verziehen zu lassen. Dann leuchtete ich in das Dunkel und griff mit vorsichtiger Hand in das seltsame Wesen, welches von unten bis oben den Schrank füllte. Armer Oheim Albrecht! Was zog ich alles in dieser heiligen Christnacht hervor aus dem Versteck, über welchem du deine Bücherhaufen aufgeschichtet hattest! Armer Oheim! Verstaubt, zerfallend Kinderspielzeug der verschiedensten Art – Puppen, kleine hölzerne Töpfchen und Schälchen, ein zerbrochenes Stühlchen und zuletzt einen dürren Weihnachtsbaum, an dessen Zweigen hier und da noch etwas Goldschaum haftete, auf dessen Spitze noch ein zerknitterter Stern von Silberpapier befestigt war. Mit übereinander geschlagenen Armen stand ich inmitten dieser toten Freuden; der Rabe krächzte, die Lampe hatte allmählich ihr Öl verzehrt und war dem Verlöschen nahe … ein Glockenschlag erweckte mich aus meinem stundenlangen Brüten – die Weihnachtsglocken von Finkenrode! Die Weihnachtsglocken meiner Kindheitszeit!
Ich fuhr mit der Hand über die Stirn und lauschte; unwiderstehlich zog es mich hinaus in die heilige Nacht.
Ich hatte den Mantel übergeworfen; ich fand mich in der Straße, ohne zu wissen wie.
Alles still und dunkel! Kein Stern am Himmel – kein Lichtlein auf Erden! Glockenklang, Glockenklang der Heimat!
Ich schritt langsam durch die schweigenden, schneebedeckten Straßen, das Erwachen der Stadt erwartend. –
Dort flammt eln Licht auf, dort wieder eins. Sie bewegen sich in den Häusern hin und her durch die Gemächer. Sieh da! Sieh da, ein Weihnachtsbaum im vollen Glanz! Haustüren öffnen sich hier und da, eine Gestalt, in einen Mantel gehüllt, streicht an mir vorüber. In immer hellerm Glanz leuchtet das Städtlein Finkenrode.
Ich folge dem Glockenklang durch die Gassen auf den Marktplatz – vor mir sieht die Kirche des heiligen Martin mit ihren hohen, spitzen, erleuchteten Fenstern; die beiden Türme verlieren sich vollständig in dem Nebel und der Dunkelheit. Ich lehne mich an einen Pfeiler des weitgeöffneten Portals und lausche. Hallen einmal einen Augenblick die Glocken über mir aus, so klingt leise, leise das Geläut eines fernen Walddorfes herüber. Noch ist die Kirche menschenleer, die Wände des heiligen Gebäudes entlang schimmern die Totenkränze im Glanz der Kronleuchter. Tannengezweig windet sich an den Pfeilern empor. –
Jetzt ist das christliche Volk erwacht und regt sich. Männer und Weiber schreiten durch die Gassen und über den Markt, auf die Kirchtüren zu, die Gesangbücher an die Brust gedrückt. Die Kinder führen ihre bunten Weihnachtspuppen mit sich, junge Mädchen entfalten strahlend den neuesten Putz. Zwischen den modernen Hüten und Hauben der Weiber schimmern hier und da die landesüblichen seltsamen Kugelmützen von Gold-und Silberstoff, die Kopfbedeckungen der älteren Bürgerfrauen, hervor. Immer dichter werden die Scharen, die an mir vorüberziehen. Jeder Kirchgänger führt ein Wachslicht mit sich, welches an einer am Eingang der Kirche hängenden kleinen Lampe angezündet wird. Schon flammen Hunderte von Kerzen, schon braust die Orgel, der Gesang der Menge fällt ein – weit über die kleine alte Stadt hin, bis tief hinein in die stillen Berge, wo der Hirsch und der Fuchs verwundert aufhorchen, erklingt die Feier des Christmorgens.
Jetzt glitt wieder eine Gestalt an mir vorüber – ohne mich zu erblicken, – hinein in den Gesang und Lichterglanz. Ein grüner Schleier wurde ein wenig zurückgeschlagen, noch ein Lichtlein leuchtete auf– ich drückte die Hand schier geblendet auf die Augen – verloren war die Gestalt in der Menge. Schnell trat ich ein in das heilige Gebäude und ließ mancherlei aus meinem Leben draußen, was ich um keinen Preis der Welt mit hineingenommen hätte.
Da ist ein uraltes Bild in der Martinskirche zu Finkenrode: ein geharnischter Ritter nebst seinem Ehegemahl knien mit gefalteten Händen einander gegenüber, und zwischen ihnen liegt auf einem weißen Kissen eine kleine Kinderleiche. Ein eigentümlicher Schauer ergriff mich, als Kind, jedesmal beim Anblick dieses Gemäldes – ich fürchtete mich unsäglich vor ihm, und als ich heute, nach so langen Jahren, ein Mann, der sich selten vor etwas fürchtet, mich dem Bilde wieder gegenüber fand, durchzuckte mich dasselbe Gefühl. Ich beschloß, es ihr zu sagen, daß ich sie – liebe! – –
16
»Es ist gut, daß du kommst, Max« sagte der Oheim Fasterling, als ich gegen Mittag des ersten Weihnachtstages bei ihm eintrat, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen und ein wenig in den Winkeln und Ecken umherzustöbern. »Es ist gut, daß du kommst, Max – was ist mit dem Mädchen vorgegangen?! Sieh sie dir einmal an, mein Junge. Sidonie, Kopf in die Höh!«
Das Köpfchen meiner Base erhob sich von dem Nähzeuge, mit welchem sie beschäftigt zu sein schien, die Äuglein blieben verhangen von den seinen seidenen Wimpern.
Es war in der Tat etwas mit ihr vorgegangen!
»Waddel,« sagte ich, »Waddel, was hat Fräulein Sidonie Fasterling angefangen?«
Der Köter gähnte und reckte sich; eine wundervolle Röte flog über Sidoniens Gesicht, und der kleine Fuß begann ungeduldig den Takt des Sturmgalopps auf dem gestickten Fußbänkchen