dem Zigeuner draußen in der stürmischen Winternacht, und schweigend durchkreuzten wir das Städtlein, bis wir zu dem entgegengesetzten Ende gelangten, wo sich die ärmlichsten Häuser und Hütten, dicht neben dem jetzt tief verschneieten Kirchhof gesammelt haben. Mit Mühe kämpften wir uns zu der Tür des Hauses Nadra, welche uns von der Frau Lena geöffnet wurde, durch.
»Ach, der gnädige Herr und das schöne Fräulein! Das ist ein Segen, daß Sie kommen.«
»Was macht er? Was macht er, Lena?« fragte mit bewegter Stimme Cäcilie, den Schleier zurückschlagend.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir fürchten uns! … Die Mutter allein ist bei ihm.«
Wir traten nun tiefer in das Haus und in die tollste Vagabunden-Wirtschaft, die ich jemals gesehen habe. Ein Gewimmel von Menschen und Tieren erfüllte die untern Räume mit einem verworrenen Getöse. Ein Säugling schrie hinter einer Tür, und eine Mädchenstimme sang ein halbwildes Wiegenlied. Eine schwarze Katze strich schnurrend um unsere Füße und schlich hinter uns her die halsbrechende Treppe, welche zu der armseligen Wohnung des Musikanten führte, hinauf. Die Lampe in der Hand des voranschreitenden Zigeuners machte das Häßliche nur noch häßlicher, das Phantastische noch phantastischer.
Über einer verrauchten Tür hing in einem Käfig eine kleine Eule, welche vor dem Lichtschein ihr Gefieder sträubte und heisere, unheimliche Töne ausstieß, während ein anderer Vogel durch die Gitterstäbe eines zweiten Bauers verwundert auf uns herabschaute.
»Hier!« sagte der Zigeuner, und Cäcilie legte unwillkürlich ihren Arm in den meinigen, als die Tür sich öffnete. Ein schwüler Dunst schlug uns entgegen, und die Lunge hatte Mühe, sich an diese verdorbene Atmosphäre zu gewöhnen. Das Gemach war so niedrig, daß ein aufrechtstehender Mann fast die Decke berührte; auf dem kleinen Ofen zischte und sprudelte ein Gefäß, übelriechende Dämpfe versendend. Janna, die alte Zigeunerin, erhob sich bei unserm Eintritt von einem Schemel neben dem Lager des Kranken.
»Es schläft – das arme Männlein,« sagte sie.
»Mein Gott, mein Gott!« murmelte Cäcilie, und ich fühlte, wie ihre Hand auf meinem Arme zitterte.
»Was hat denn der Doktor Gundermann gesagt, Janna?« fragte ich.
Die Alte machte eine Schulterbewegung: »Die Herren sind gar klug, aber sie sagen nichts. Er hat einen Trank verschrieben; aber Janna weiß, daß er nichts helfen wird. Arm Männle wird nicht wieder gesund werden, wird sterben und weggehen. Hat bald Ruhe – da!«
Und die Alte streckte die Hand aus nach dem niedrigen Fenster, unter welchem der weiße Kirchhof der Stadt Finkenrode lag.
»Still, er erwacht!«
»Als das Reich noch stand,« fuhr die Zigeunerin fort, »wußte mein Friedel einen Spruch, das Auge der Sterbenden licht zu machen; aber sie haben ihn ja gehängt. Das ist lange her! Darf nicht einmal mehr den Kindern das Herzgespann besprechen.«
»Sehen Sie, sehen Siel« rief Cäcilie. »Er schlägt die Augen aus! Wallinger, alter Freund, wie geht es Ihnen? Was für törichte Dinge fangen Sie an!«
»Anna! Anna!« schrie der Alte wild und herzzerreißend, beide Arme nach der Fragerin ausstreckend. »Anna! Anna, bist du es, Anna? Liebe, liebe Anna! Verzeih! Verzeih! Hast dich so um mich gegrämt, hast dich zu Tod gehärmt um mich – – weh, weh, du kannst nicht Anna sein, du bist ja längst gestorben. Sprich, wer bist du? – Bist du die Schönheit, die ich zu suchen auszog? Anna, liebe, liebe Anna – was quälst du mich so – Hab’ ich noch nicht genug gelitten zur Sühne? Wo hab’ ich dich suchen müssen, Anna, in der weiten Welt! Deine Hand – gib mir deine gute, treue, liebe Hand, Anna!«
Zitternd überließ Cäcilie dem Unseligen die Hand, welche dieser krampfhaft ergriff und an seine Brust drückte und sie mit heißen Küssen bedeckte.
»Ich wußte, daß ich dich finden müsse, Anna, wie sie mich auch verspotteten und verhöhnten! Ich wußte ja, daß sich nicht die Ewigkeit zwischen uns legen konnte – nun ist alles, alles gut – o Süße, nicht wahr, nun ist alles gut?«
»Alles! Alles!« schluchzte Cäcilie laut weinend, und der Alte lächelte und legte den Finger auf den Mund. »Jetzt ist niemand mehr da, der über mich lacht; wir sind allein in der Welt – alle sind tot und wir beide auch. Wer lacht über die Toten? Still, still! Hörst du das Wiegenlied – wie süß läßt sich’s dabei schlummern. Sing es weiter, Anna, sing das Wiegenlied, welches du auch deinem Schwesterchen sangst, – mein Kopf ist so weh, so wirr. Hab’s auch der andern gelehrt, die ich liebte, weil sie dir ähnlich sah – dort unten in dem kleinen Häusel am Tor« – – –
»Singen Sie ihm etwas, Cäcilie!« flüsterte ich. »Sehen Sie ihn an!« …
»Ich glaube zu verstehen, was er meint,« flüsterte Cäcilie, »ich glaube die zu kennen, welche er das traurige Wiegenlied gelehrt hat.« Mit leiser unterbrochener, tief erregter Stimme begann sie:
»Schaukeln und Gaukeln –
Halb wachender Traum!
Schläfst du, mein Kindlein?
Ich weiß es kaum.
Halt zu dein Äuglein,
Draußen geht der Wind;
Spiel fort dein Träumlein,
Mein herzliebes Kind!
Draußen geht der Wind,
Reißt die Blätter vom Baum,
Reißt die Blüten vom Zweig –
Spiel fort deinen Traum!
Spiel fort deinen Traum,
Blinzäugelein!
Schaukelnd und gaukelnd
Sitz’ ich und wein’!«
Wallinger, mit der Linken die Hand der Singenden haltend, bewegte die Rechte, taktschlagend, in der Luft hin und her, wie der Dirigent eines Konzertes. Als der Gesang endete, fiel auch die Hand kraftlos auf die Decke zurück.
»Laßt ihn schlafen, Kinder!« sagte die alte Zigeunerin. »‘s ist ihm am besten so. Geht, geht, Kinder – geht auch zu Bett – ‘s ist nicht gut für euch, lang in die Nacht hier zu sitzen, hab’ an manchem Totenbett gewacht, will arm Männlein hüten und hegen wie meinen Augapfel« …
»Anna, Anna!« murmelte der Kranke, unruhig sich hin und her werfend. »Ach, Anna, es waren doch schöne Zeiten! Weißt du noch? – das kleine Stäbchen – hoch über den Dächern? Es liegt den ganzen Tag im Sonnenschein, und das Orangensträuchlein in dem Fenster bringt Blüten und goldgelbe Früchte. Morgen früh wecke ich dich wieder mit meiner Geige – gib acht, Anna, ehe die Vögel wach sind … Anna!«
Mit dem Namen der toten Geliebten auf den Lippen sank jetzt der arme, alte Wallinger in einen festen Schlaf; besorgt blickte ich auf die bleiche Cäcilie: ich selbst vermochte kaum noch in der schwülen Luft des Krankenzimmers Atem zu holen.
»Was wollen die schönen Herrschaften noch warten?« sagte die Zigeunerin. »Nehmen Sie die Stille mit, junger Herr, es ist hier kein Platz für sie.«
»Cäcilie, liebe Cäcilie, sollen wir gehen? Bitte, lassen Sie uns gehen.«
Die Angeredete antwortete nicht; aber sie hüllte sich mechanisch wieder in ihren Mantel. Mechanisch ließ sie sich fortführen aus dem Aufenthalt des Todes. Auf dem Vorplatze erwartete uns Martin, welchem ich meinen Geldbeutel gab, und der uns die Treppe hinunter wieder mit der Laterne vorausging. Mit unendlichem Wohlbehagen atmete ich den Sturmwind draußen vor dem Hause ein und schüttelte einen tiefen Schauer aus den Gliedern. Cäcilie hatte das Taschentuch auf den Mund gepreßt und weinte leise an meiner Seite.
Armer, armer Wallinger!
Ans den dunkelsten Gäßchen hatten wir uns bereits hervorgewunden, als uns plötzlich, indem wir um eine gewisse Ecke bogen, ein heller Lichtschein entgegenleuchtete und eine gegen mich prallende Gestalt mich fast über den Haufen geworfen hätte.
»Der Oheim Fasterling!«