Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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kritzelte. »Sie wollen keine dunkeln Blätter; – kennen Sie vielleicht die Geschichte jenes englischen Zerrbildzeichners, der vor dem Spiegel an seinem eigenen Gesichte die Fratzen der menschlichen Leidenschaften studierte?«

      »Nein, ich kenne die Geschichte nicht. Was ward mit ihm?«

      »Er – schnitt sich den Hals ab«, sagte der Zeichner dumpf, seine vollendete Skizze fortlegend.

      Verwundert schaute ich auf. Das Gesicht Strobels hatte einen Ausdruck von Trübsinn angenommen, der mich fast erschreckte. Er sprach nicht weiter, und es trat eine Pause ein, während welcher drüben das Kind lachte und jubelte und die Tänzerin den Spatzen, die sich zwitschernd auf die Dachrinne setzten, Brotkrumen streute. Ich sah, daß der Zeichner allein sein wollte, und ging; der sonderbare Mensch begleitete mich bis zur Treppe. Dort sagte er, mir die Hand drückend und lächelnd:

      »Ich will aber doch Mitarbeiter Ihrer Chronik werden, Signore!«

      So endete mein erster Besuch bei dem Karikaturenzeichner Ulrich Strobel.

      Am 10. Dezember.

      Es ist jetzt vollständig Winter geworden; der Schnee liegt zu hoch in den Straßen, als daß man den Schritt der verspäteten Fußgänger, das Rollen der Wagen hören könnte. Es ist tiefe Nacht.

      Was ist das für ein bleiches, verfallenes Gesicht, welches da vor mir auftaucht? Ist das Franz – der lebensmutige, lebensglühende Franz Ralff, den ich einst kannte?

      Drei Monate waren hingegangen, seit man die tote Marie zu ihrer stillen Ruhestätte hinausgetragen hatte. Ich saß neben meinem Freunde, der, auf die graugrundierte Leinwand vor ihm starrend, plötzlich begann:

      »Höre, Johannes, ich muß dir eine Geschichte erzählen. Es wird gut sein, daß du sie kennst; auch könnte wohl der Fall eintreten, daß mein Kind sie erfahren müßte. Letzteres will ich dann dir überlassen, Johannes.

      Ich muß weit dazu ausholen, ich muß in unsere früheste Jugendzeit zurückgehen, wo wir glückliche, ahnungslose Kinder waren. O Johannes, laß mich sie zurückrufen, diese seligen Tage! Klingt es dir nicht auch bei jeder Erinnerung daran wie das Läuten jener im Wald verlorenen Kirche? O, mein Jugend-Waldleben! – Wie ich es jetzt vor mir sehe, dieses alte, braune, verfallende Jägerhaus mitten in der grünen, duftenden Einsamkeit! Vorbeiplätschernd der klare Bach, der dann tiefer im Walde den stillen Teich bildet, den die Sage so wundersam umschlungen hat! Wie oft bin ich, das Kinderherz voll geheimnisvollen Bebens, an funkelnden Mondscheinabenden, wenn die Bewohner des Jägerhauses vor der Tür saßen und der alte Burchhard das Waldhorn – du weißt wie schön – blies, dem durch das Dunkel glitzernden Bach nachgeschlichen, dem stillen Wasser zu, das Treiben der Nixen und Elfen zu belauschen. Wie fuhr ich zusammen, wenn eine Eidechse im Grase raschelte oder ein Nachtvogel schwerfälligen Flugs über den glänzenden Spiegel des Teichs hinflatterte, indem ich dachte, jetzt müsse das wundersame Geheimnis ans Licht treten und sein Wesen und Weben beginnen um die volle Scheibe des Mondes, die in der klaren, stillen Flut widergespiegelt lag. Erst später erfuhr ich, woher der tiefe, geheime Zug in mir nach diesem Waldwasser stamme.

      Wie oft bin ich, wenn der Sturm in den Bäumen rauschte, hinaufgestiegen in eine hohe Tanne, um mich, die Arme fest um den rauhen, harzigen Stamm geschlungen, das Herz gepreßt von Angst und unsäglicher Seligkeit – hin und her schleudern zu lassen vom Winde. Und dann, wenn draußen die heiße Julisonne, die in diese Waldnacht nur vorsichtig neugierig hineinzulugen wagte, auf der Welt lag: welch ein Träumen war das! Welch eine Wonne war’s, im Grase zu liegen, während der Rauhbach an meiner Seite rauschte und murmelte und seine Kiesel langsam weiterschob, während die Sonnenlichter an den schlanken Buchenstämmen oder über den Wellchen des Baches spielten und zitterten, die Wasserjungfer über mich hinschoß, ringsumher die Glockenblumen ihre blauen Kelche der Erde zuneigten und der stolze Fingerhut sich trotzend in seiner Pracht erhob, als spreche er jeden verirrten Strahl der Sonne für sein Eigentum an.

      Welche Winterabende waren das, wenn ich dem alten, weißbärtigen Mann, den ich Oheim nannte, auf dem Knie saß, mit den Quasten seiner kurzen Jägerpfeife spielte und seinen Geschichten und Sagen lauschte, während die Hunde zu unsern Füßen schliefen und träumten und nur von Zeit zu Zeit aufhorchten, wenn der alte Karo draußen anschlug.

      Es war ein glückliches Leben, dieses Leben im Walde, und es ist von großem Einfluß auf meine spätere künstlerische Entwicklung gewesen. Noch gar gut erinnere ich mich des Tages, an welchem ich mein erstes Kunstwerk an der Stalltür zustande brachte. Es war ein Porträt unseres alten Burchhards und seines getreuen Begleiters, des kleinen Dachshundes, der die Eigentümlichkeit hatte, gar keinen Namen zu besitzen, sondern nur auf einen besondern Pfiff seines Herrn hörte.

      Der folgende Zeitraum meiner Geschichte, Johannes, ist dir fast so gut als mir bekannt, und ich könnte schneller darüber weggehen, wenn es mich nicht überall, wo ihr Bild auftaucht, so gewaltig festhielte.

      Wieviel heimliche Tränen – der Oheim liebte das Weinen nicht – wischte ich mir aus den Augen, als der Tag kam, an welchem ich meiner grünen Waldesnacht Ade sagen mußte. Gern hätte ich mich an jeden Baum, an jeden Strauch, an welchem der Weg aus dem Walde heraus vorbeiführte, festgeklammert. Wie unermeßlich weit und groß kam mir die Welt vor! Wie eine Eule, die man aus ihrer dunkeln Höhle in den Sonnenschein gezerrt hat, schien ich mir anfangs in Ulfelden. Ich war unglücklich, wie ein Kind von zwölf Jahren es nur sein kann, ehe ich mich in das ungewohnte Leben hineinfand.

      Wie deutlich steht mir der erste Abend in unserer Kindheitsstadt noch vor dem Gedächtnis! Der Oheim war zurückgekehrt in sein einsames Waldhaus, die Frau Rektorin wirtschaftete in der Küche, der alte Rektor saß oben in seinem kleinen Studierstübchen über dem Tacitus, seinem Lieblingsschriftsteller, wie ich später erfuhr, und – ich kauerte einsam mit verquollenen, tränenden Augen auf der grünen Bank vor dem Hause und blickte in dumpfem Hinbrüten den vorbeischießenden Schwalben nach: als auf einmal ein kleines, etwas schmutziges Händchen mir einen angebissenen rotbackigen Apfel hinhielt, ein Lockenköpfchen sich unter meine Nase drängte und ein feines Stimmchen sagte:

      »Nicht weinen … Junge … Mama auch Eierkuchen backen.«

      Ich hatte damals große Lust, die kleine Trösterin zurückzustoßen, sie ließ sich aber nicht abweisen, und als ich über ihr Mitgefühl stärker zu schluchzen anfing, fing auch sie an zu weinen. Unter diesem Tränenstrom wurden wir von dem alten Rektor überrascht, welcher plötzlich in seinem rotgeblümten Schlafrock – ein Porträt von ihm gibt es dort unter meinen Skizzen – und mit der langen Pfeife im Munde hinter uns stand.

      »Nun, kleines Volk«, sagte er lächelnd, »das ist ja eine prächtige Freundschaft zwischen euch, die so mit Heulen anfängt! Wer hat denn dem andern etwas zuleide getan?«

      Diese diplomatische Wendung der Sache brachte auf einmal meinen Tränenstrom zum Stehen, und auch die kleine Marie lächelte sogleich wieder durch die hellen Tropfen, die ihr über beide Backen rollten.

      »Wird schon gehen, wird schon gehen!« brummte der alte Scholarch, fuhr mit der Hand über meine Haare und ging dann zurück ins Haus, um seiner Frau beim Eierkuchenbacken zuzusehen.

      Die kleine Marie aber führte mich zu ihrem Garten im Winkel, grub eine keimende Bohne hervor, zeigte sie mir jubelnd und versprach mir ein ähnliches Feld für meine Tätigkeit. Dann zogen wir uns in die Geißblattlaube zurück, wo der Tisch gedeckt war. Da fand ich neben dem Nähzeuge der Frau Rektorin ein Buch auf der Bank – ein Bilderbuch, welches mich den Wald, das Jägerhaus, den Ohm, den alten Burchhard, mein ganzes Heimweh zuerst vergessen ließ. Es war ein zerlesener und zerblätterter Band des welt-und kinderbekannten Bertuchschen Werks. Welch eine neue Welt ging mir da auf! – Und die kleine Marie lehnte neben mir, lachte, erklärte und kitzelte mich mit Strohhalmen; dann kam die Frau Rektorin mit dem Eierkuchen, und der Rektor verließ seinen Tacitus; die Glocken der alten Stadtkirche läuteten den morgenden Sonntag ein – ich hatte mich gefunden! – Erinnerst du dich wohl noch, Hans, dieses Sonntagmorgens, der auf meinen ersten Tag in Ulfelden folgte? Weißt du wohl noch, wie du mir in der Kirche zunicktest und beim Nachhausegehen unsere Freundschaft ihren Anfang nahm durch eine Handvoll Kletten, welche du mir in die Haare warfest? Weißt du wohl, Johannes, wie ich aus dem blöden