Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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neue Mappe hervorsuchen muß. –

      So war ich denn allein mit der kleinen Elise, die unbewußt ihres Waisentums und des unbehülflichen Pflegevaters auf Marthas Schoß tanzte, als ich auch von dem Begräbnisse zurückkehrte in diese vor kurzem noch so fröhliche, jetzt so öde Wohnung in Nr. sieben der Sperlingsgasse. Da stand – es steht noch da – auf dem Fenstertritt Mariens kleines Nähtischchen mit unvollendeten Arbeiten, Zwirnknäulchen, Nadeln und Bändern, wie sie es an jenem Abend, über Kopfweh klagend, verlassen hatte, um nicht wieder davor zu sitzen, nicht wieder durch die Rosen-und Resedastöcke und das Efeugitter in die dunkle Gasse hinauszusehen. Da waren noch allenthalben die Spuren ihrer zierlichen Geschäftigkeit. Franz hatte die letzten drei Monate wie ein Argus über ihre Erhaltung gewacht. – Dort auf jenem Stuhl hing ihr Hütchen, dort das Handkörbchen, welches sie bei ihren Einkäufen mit sich führte.

      Im zweiten Fenster stand Franzens Staffelei: das vollendete Bild Mariens – lächelnd, wie sie nur lächeln konnte – darauf lehnend. Seine farbenbedeckte Palette hing daneben, seine Skizzenmappen und Rollen lehnten und lagen allenthalben. Hinter der Tür hing sein zerdrückter Biber, den wir so oft auf unsern Spaziergängen mit Blumen und Laubgewinde umkränzten und der Marien, seines jämmerlichen, manchen-sturmdurchlebten Aussehens wegen, ein solcher Dorn im Auge war.

      Kein Fleckchen, kein Gerät ohne seine traurig süße Erinnerung. Zerbrochenes Kinderspielzeug auf dem Boden … und ich allein mit dem Kinde in dieser kleinen Welt eines verlornen Glücks – Erbe von so viel Schmerz und Tränen und Verlassenheit!

      Aber jetzt galt es zu handeln, nicht zu träumen. Ich mußte mich aufraffen. Ich nahm der Wärterin das kleine Lieschen aus den Armen, küßte es und versprach mir leise dabei, dem Kinde meiner Freunde ein treuer Helfer zu sein im Glück und Unglück, bei Nacht und bei Tage, und ich glaube den Schwur gehalten zu haben. Das Kind sah mich mit seinen großen blauen – denen der Mutter so ähnlichen – Augen lächelnd an, griff mit beiden Händchen mir in die Haare und begann lustig zu zausen, wobei die alte Martha mit gefalteten Händen zusah. Martha war schon Mariens Wärterin im Rektorhause zu Ulfelden gewesen, war mit ihr zur Stadt gekommen und hatte sie nicht verlassen bis an ihren Tod.

      Da meine Wohnung drüben in Nr. elf zu beschränkt war, um die ganze kleine Welt dahin überzusiedeln, so hielt ich zuerst mit der Martha einen Rat, dessen Resultat war, daß ich meine Bücher, Herbarien, Pfeifen und unleserlichen Manuskripte nach Nr. sieben herüberholte, worauf Martha alles aufs beste einrichtete. Indem ich alle Liebe für die Eltern nun in dem Kinde konzentrierte, hoffte ich, auf den Trümmern des zusammengestürzten Glücks ein neues hervorblühen sehen zu können. Drüben blieb die Wohnung nicht lange leer; mein dicker Freund, der Doktor Wimmer, zog ein und spielte eine geraume Zeit den Haupthelden und Faxenmacher der Sperlingsgasse.

      Am 5. Januar.

      Elise! – So oft ich diesen Namen niederschreibe, klingt es wieder in der immer dunkler herabsinkenden Nacht meines Alters wie ein Kindermärchen, wie Lerchenjubel und Nachtigallenklage, umgaukelt es mich so duftig, so leicht, so elfenhaft … Elise, Elise, komm zurück! Sieh, ich bin alt und einsam! Weißt du nicht, daß ich dich auf den Armen schaukelte, daß ich über dir wachte in langen Nächten, wie nur eine Mutter über ihrem Kinde wachen kann? – Und aus weiter Ferne glaube ich oft eine zärtliche, wie Musik tönende Stimme zu vernehmen: Ich komme! ich komme! Geduld, nur noch eine kurze Zeit! Und ich warte und hoffe und fülle diese Blätter mit den Namen meines Kindes Elise.

      So tauche denn auf aus dem Dunkel, du Idyll, bringe mit dir deine Märchenwelt, dein Lächeln durch Tränen! Komm, mein kleines Herz, – aus den schweinsledernen Folianten lassen sich so hübsche Puppenstuben bauen; schau einmal her, was für ein prächtiges Bett gibt mein Papierkorb ab für die Jungfern Anna, Laura, Josephine und wie die kleiegefüllten Donnen sonst heißen! Einen niedlichen, goldgelben Kanarienvogel schenke ich dir, wenn du nicht weinen willst und hübsch herzhaft den Löffel voll brauner Medizin herunterschluckst! – Weine nicht, Liebchen, sieh, wie der Efeu aus deiner Mutter Heimatswalde Blättchen an Blättchen ansetzt und immer höher an der Fensterwand sich emporrankt. Schau, wie der Sonnenschein hindurchzittert und auf dem Fußboden tanzt und flimmert; es ist wie im grünen Wald – Sonnenschein und blauer Himmel! Du mußt aber auch lächeln!

      Und wie der Efeu höher und höher emporsteigt, so wächst auch du, mein kleines Lieb; schon umgeben ebenso feine lichtbraune Locken, wie die auf jenem Bilde, dein Köpfchen. Wer hat dich gelehrt, dieses Köpfchen so hinüberhängen zu lassen nach der linken Seite, wie sie es tat?

      Schüttle die Locken nicht so und gucke mich nicht so schelmisch an aus deinen großen, glänzenden Augen! Soll das ein R sein, dieses Ungetüm? O, welch ein Klecks, Schriftstellerin! Welche Dintenverschwendung von den Händen bis auf die Nasenspitze! Wie wird die alte Martha waschen müssen! Du sagst, du habest nun genug Buchstaben gemalt, du müssest jetzt hinunter in die Gasse; du meinst, sogar die Fliegen hielten es nicht mehr aus in der Stube, du sähest wohl, wie sie mit den Köpfen gegen die Scheiben stießen?!

      Nun so lauf und fall nicht, Wildfang; ich sehe ein, wir müssen dich doch wohl zu dem Herrn Roder in die Schule schicken, damit du das Stillsitzen lernst.

      Was ist das auf einmal für ein helles Stimmchen, welches drüben aus dem Fenster meiner alten Wohnung in Nr. elf ruft:

      »Onkel Wachholder, Onkel Wachholder! Ausgehen, ausgehen!«

      Quält die kleine Hexe nicht schon wieder den Doktor der Philosophie Heinrich Wimmer, der da drüben seine guten Leitartikel und schlechten Romane schreibt? Wirklich, es ist so. Eine Baßstimme brummt herüber:

      »Wachholder, ‘s ist ‘ne absolute Unmöglichkeit, bei dem Heidenlärm, den Euer Mädchen hier mit dem Buchdruckerjungen und dem Rezensenten – (Rezensent heißt der Hund des Doktors, ein ehrbarer schwarzer Pudel) – treibt, weiterzuschreiben. Ich bin mitten in einer der sentimentalsten Phrasen abgeschnappt – die kleine Range ist aus Rand und Band, und dabei grinst der Lümmel Fritze im Winkel und will Manuskript für die morgende Nummer.«

      »Schicken Sie doch das Mädchen fort, Doktor, und riegeln Sie Ihren Musentempel hinter ihr zu!« lache ich hinüber.

      »Dummes Zeug«, brummt der Doktor, der eine echte zeitungsschreibende Bummelnatur ist und dem die Störung durchaus nicht mißfällt. »Dummes Zeug; ich schreibe ›Fortsetzung folgt‹, und wir führen die Dirne in Schreiers Hunde-und Affenkomödie; der Rezensent hat’s auch nötig, daß seine ästhetische Bildung aufgefrischt werde, wie ein Pack verflucht sonderbar riechender Zeitungsnummern in der Ecke zur Genüge beweist. Machen Sie sich fertig, Verehrtester!«

      Damit verschwindet der Doktor vom Fenster; ich höre drüben auf der Treppe ein Getrappel kleiner Füßchen, und Liese erscheint, begleitet vom Rezensenten, in der Haustür. Mit einem Satz ist sie über die Gasse, ebenso schnell bei mir und im Handumdrehen fertig, wenn’s sein müßte, eine Reise um die Welt anzutreten.

      Einige Minuten später stürzt Fritze, der Druckerjunge, aus der Tür von Nummer elf mit einem Blatt Papier, welches noch sehr naß zu sein scheint, denn er trägt es gar vorsichtig und hält es mit beiden Händen weit von sich ab. Jetzt erscheint der Doktor ebenfalls in der Gasse, den östreichischen Landsturm pfeifend, die Zigarre im Munde und mit dem Hakenstock sehr burschikose Fechterübungen gegen einen eingebildeten Gegner machend. Er brüllt herauf:

      »Wetter, edler Philosoph, lassen Sie die deutsche Presse nicht zu unvernünftig lange warten.«

      Halb gezogen von Lieschen, halb umgeworfen vom Rezensenten, der, wie es scheint, seiner höheren Bildungsschule sehr ungeduldig entgegengeht, stolpere ich die Treppe hinunter über Eimer und Besen, über Kinder und Körbe. Aus allen Türen blicken alte und junge, männliche und weibliche Köpfe, die alle der kleinen Liese Ralff freundlich zunicken. Und wirklich, sie ist auch – wie einst ihre Mutter, nur jetzt noch auf andere Weise – das bewegende Prinzip der ganzen Hausgenossenschaft. Auf der Gasse taucht der Klempner Marquart aus seiner Höhle auf und erhält von der Liese Gruß und Handschlag, nicht aber vom Rezensenten, der den Feuerarbeiter haßt und, wie es so oft in der Welt geschieht, das Werkzeug für die Ursache nimmt. Hat nicht Marquart auf hohe polizeiliche Anordnung ihm, dem ehrbaren, soliden Rezensenten, dem Muster aller Pudel, den Maulkorb