Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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und seitwärts schielend vorbeischleicht, »sich in die Büsche schlägt«, wie Seume und mein Freund Wimmer sagen? Und nun durch die Gassen! Himmel, was sollen wir der Kleinen nicht alles versprochen haben! Da eine »reizende« Gliederpuppe mit Wachsgesicht, an jenem Laden wieder ein »wonniges« kleines Puppenservice von gemaltem Porzellan und so fort, daß der Doktor ganz wehmütig den Hut auf die Seite schiebt und sich hinter dem Ohr kratzt.

      »Ja, kucke nur, Onkel Wimmer, hast du nicht gesagt, du wolltest mir solch ein hübsches Kaffeegeschirr kaufen, wenn ich nicht wieder aus deinen alten, schmutzigen Schreibbüchern dem Rezensenten einen Federhut machen wolle?«

      »Denken Sie, Wachholder« – sagt der Doktor zu mir –, »da hatte die Herostratin vorgestern einen ganzen Bogen Manuskript, das ganze zwanzigste Kapitel der Flodoardine zu dem eben von ihr erwähnten Zwecke vermißbraucht! Denken Sie sich meine Verblüfftheit, als der Köter so geschmückt aus seinem Winkel mir entgegenstolziert, auf den Stuhl mir gegenüber springt und einen verachtenden Blick über den Schreibtisch und die noch übrigen Bogen wirft, als wolle er sagen: »Pah, aus dem andern Schund machen wir eine ganz famose Jacke!«

      »Kriege ich mein Geschirr?« ruft der kleine Verzug zwischen uns ungeduldig.

      »Ja«, sagte der Doktor gravitätisch; »mit der zweiten Auflage der Flodoardine!«

      »Ach«, mault die Kleine, wehmütig über diese dunkle, ihr unverständliche Vertröstung, »ich sehe schon, du hast wieder mal kein Geld!«

      Lachend marschierte ich weiter, während der Doktor ebenfalls etwas Unverständliches in den Bart brummte.

      Und jetzt sind wir am Eingange der buntgeschmückten Bude angekommen und einen Augenblick darauf auch drinnen. Affen und Äffinnen, Hunde und Hündinnen machten ihre Kunststücke, und die Bretter bedeuteten auch hier eine Welt, und Affe und Äffin, Hund und Hündin betrugen sich wie Menschen. Die kleine Elise jauchzte, und Rezensent starrte verwundert seinen Stammesgenossen auf der Bühne zu. Er schien ganz perplex, und von Zeit zu Zeit stieß er einen heulenden Laut aus, den der Doktor verdolmetschte:

      »Berichterstatter war außer sich vor Entzücken.«

      Bellte der gelehrte Pudel kurz und schroff, so meinte der Doktor, das bedeute:

      »Berichterstatter war außer sich über die Insolenz eines so unreifen Künstlers, vor einem so kritisch gebildeten Publikum, wie das unserer Residenz, zu erscheinen.«

      Wedelte das rezensierende Vieh mit seinem Husarenbusch, so hieß das:

      »Diese junge Künstlerin verdient alle Ermunterung. Bei fortgesetztem fleißigem Studium verspricht sie etwas Großes zu leisten.«

      Gähnte der Köter, so sagte der Doktor:

      »Berichterstatter rät dem Verfasser dieses geistvollen Stücks, sein elendes Machwerk nicht für dramatische Poesie auszugeben. Mit einer Tragödie hat es nichts gemein als fünf Akte!«

      Als am Schluß der Vorstellung das große und kleine Publikum sich erhob und Beifall klatschte, der Pudel aber, wie von einer großen Verpflichtung befreit, unter die Bank sprang, erklärte der Doktor, das bedeute:

      »Gottlob, daß die Geschichte vorbei ist. Jetzt kann man sich doch mit Gemütsruhe eine Zigarre anzünden und zu Butter und Wagener am Gänsemarkt gehen.«

      Und das tat der Doktor auch. Vorher aber hob er die kleine Elise noch zu sich empor und gab ihr – wie sehr sie sich auch sträubte – einen tüchtigen Schmatz.

      »Also bei der zweiten Auflage der Flodoardine schaffen wir uns ein neues Teeservice an«, sagte er lachend.

      Rezensent schien erst im Zweifel mit sich zu liegen, welcher von beiden Parteien er folgen solle. Zuletzt gewann aber der Gedanke an Wurstschelle und so weiter die Oberhand. Er trabte dem Doktor nach.

      Wir aber gehen nicht zu Butter und Wagener am Gänsemarkt. Wir kaufen noch Obst von der alten Hökerfrau an der Ecke und kehren glücklich – das kleine Herz voll vom Affen Kätz mit der Laterne und dem Spitz Hudiwudri, der lustigen Madame Pompadour und all den andern Wundern – zurück in unsere Sperlingsgasse und schlafen, müde vom Gehen, Lachen und Jubeln, schon beim Auskleiden ein.

      Dann steigt der volle, reine Mond über den Dächern auf. Der Abendwind weht frischere Lüfte über die große Stadt. Der Lärm des Tages ist vorbei; manche bedrückte Brust atmet leichter in der dämmerigen Kühle. Mancher sehnige Mannsarm, der den Tag über den Hammer, das Beil, die Feile regierte, legt sich sanft um ein befreundetes Wesen, das ihm neuen Mut im harten Kampf gegen die Materie gibt; manche harte Hände heben kleine, schlaftrunkene Kindchen aus den ärmlichen Bettchen, um an den kleinen Lippen Hoffnung und Mut zum neuen Schaffen zu saugen! Und auch ich beuge mich dann über meine schlafende Pflegetochter, den leisen, ruhigen Atemzügen der kleinen Brust lauschend, während die alte Martha am Fußende des Bettes strickt.

      Das Lockenköpfchen des Kindes liegt auf dem rechten Ärmchen, das Gesichtchen ist in dem Kopfkissen vergraben; ich kann die lieblichen, reinen Züge nicht sehen.

      Da sieh! Plötzlich wendet sich das Kind um und dreht mir voll das Gesicht zu – es murmelt etwas. »Mama!« flüstert es leise, und ein heiliges, glückseliges Lächeln gleitet über das Gesichtchen.

      Wer raunt der Waise das süße Wort zu? – Die alte Martha hat die Hände gefaltet und betet leise. – »Mama, liebe, liebe Mama!« flüstert das Kind wieder, das Ärmchen ausstreckend.

      Ist es ein Traum, oder kommt die erdentote Mutter zurück, über ihrem Kinde zu schweben?

      Dann fällt wohl ein Mondstrahl glänzend durch das Efeugitter auf das Bild Mariens, der Kanarienvogel zwitschert auch wie im Traume auf, eine Wolke legt sich vor den Mond, der Strahl verschwindet – das Kind versenkt, sich umdrehend, das Köpfchen wieder in die Kissen.

      »Gute Nacht, Elise! Felicissima notte, sagen sie in dem schönen Italien, wo du heute weilst, eine glückliche, liebende Frau: Felicissima notte, Elise!«

      Am 10. Januar.

      Seit ich jene Mappe, überschrieben »Ein Kinderleben« hervorgenommen habe, ist in meinem bisherigen Fenster-und Gassenstudium eine Pause eingetreten. Es soll draußen sehr kalter Winter sein; Strobel behauptet es, auch Rosalie ist nicht dagegen. Ich kann nicht sagen, daß ich viel davon wüßte. In diesen vergilbten Blättern hier vor mir ist es sonniger Frühling und blühender Sommer. Es macht mir Freude, mich darin zu verlieren, und ich erzähle deshalb weiter.

      Da ist so ein altes Blatt:

      Wir sind sehr ungnädig. Ein alter, dicker, lächelnder Herr ist dagewesen, hat uns den Puls gefühlt, noch mehr gelächelt, einigemal mit seinem spiegelblanken Stockknopf seine Nasenspitze berührt, hat Dinte und Papier gefordert und kurze Zeit auf einem länglichen Papierstreifchen gekritzelt. Martha hat diesen Zettel darauf fortgetragen, der Alte hat uns auf das Köpfchen geklopft und gesagt: »Schwitzen, schwitzen!«

      »Brr!« – –

      Mühe genug hat’s dem Onkel Wachholder gekostet, einen solchen kleinen, strampelnden Wildfang zur Räson und ins Bett zu bringen. ‘s ist auch zuviel verlangt, die Arme so ruhig unter die Decken zu halten und nur den Kopf frei zu haben. – Himmel, was bringt Martha da für einen kleinen, braunen Kerl an! Er gleicht fast dem Sem, dem Ham oder dem Japhet aus dem Noahkasten, trägt ein rotes Mützchen über das Gesicht gezogen und mit einem Faden umbunden und schleppt hinter sich her einen langen papiernen Zopf. Was ist’s für ein Glück, daß wir noch nicht imstande sind, die Inschrift darauf zu lesen:

      Fräulein Elise Ralff.

      Alle 2 St. einen Eßlöffel voll.

      Wir sehen den Burschen aber doch mißtrauisch genug aus unserm Bettchen an, und der Onkel Wimmer, der zur Hülfe herübergekommen ist (natürlich begleitet vom Rezensenten), meint gegen mich gewandt:

      »Geben Sie acht, Wachholder, ohne Spektakel wird’s nicht abgehen. Das Volk hat sich erkältet oder erhitzt; einerlei! Schwitzen, schwitzen! Schweiß und Blut! Probatum est.«

      Martha kommt nun mit einem Löffel, einem Glas Wasser und